Schattenfluegel
würde diesen Wink verstehen und begreifen, dass sie nicht mit ihr reden wollte.
Doch sie wurde enttäuscht. Sabrina ließ von ihrem Blusenknopf ab. Sie hatte hektische Flecken im Gesicht. »Wegen Marie …«, begann sie unsicher.
Kim schluckte.
»Die taucht wieder auf!«, behauptete Sabrina. Es war ganz deutlich, dass sie versuchte, sich selbst zu überzeugen.
Hoffentlich hast du recht!, dachte Kim bei sich. Hoffentlich!
»Du glaubst nicht daran, oder?« Prüfend musterte Sabrina sie und Kim wurde erst jetzt bewusst, dass sie den Kopf geschüttelt hatte.
»Ich weiß nicht«, wiegelte sie ab.
Aber Sabrina ließ sich diesmal nicht so leicht abspeisen. »Was denkst du?«, wollte sie wissen.
Kim zögerte, doch dann entschied sie, ehrlich zu sein. »Ich habe Angst«, gestand sie nach Lukas und Dr. Schinzel nun auch ihrer Freundin. »Angst, dass Ninas Mörder sie geholt hat.« Sie hoffte auf ein bisschen Verständnis, eine freundschaftliche Umarmung vielleicht.
Aber sie hoffte vergebens.
Sabrina bekam Augen so groß wie Untertassen. »Ninas Mörd …« Sie unterbrach sich. Auf ihrem Gesicht wechselten die unterschiedlichsten Gefühlsregungen einander ab. Auf Staunen folgten Skepsis und schließlich spöttische Überheblichkeit. »Du spinnst doch total!«, entfuhr es ihr.
Kim zuckte zusammen und schwieg.
Sabrina musterte sie noch einige Sekunden länger. »Du meinst das wirklich ernst, oder?«
»Der Mörder wurde damals nicht gefasst.« Kim flüsterte jetzt. Warum versuchte sie eigentlich, sich zu rechtfertigen? Ihr war plötzlich schlecht. Die Pausenhalle hatte sich inzwischen gefüllt. Etliche Grüppchen und einzelne Mitschüler standen um sie herum, aber niemand schien sich für ihr Gespräch zu interessieren.
»Trotzdem!« Sabrina lachte. »Ich meine: Glaubst du ernsthaft, dass hier in der Stadt ein Serienmörder unterwegs ist? Das ist doch verrückt, Kim!« Sie sprach viel zu laut.
Kim warf einen hektischen Blick über ihre Schulter. Zum Glück achtete noch immer niemand auf sie. »Nina ist tot«, sagte sie dann mit Nachdruck. Einen kurzen Augenblick dachte sie daran, auch Sabrina von der Libelle auf Ninas Gesicht zu erzählen. Sie zwang sich, diesem Bedürfnis nicht nachzugeben, und versuchte, sich stattdessen auf das Gespräch zu konzentrieren. Ihr Kopf begann zu schmerzen. Mit Daumen und Zeigefinger rieb sie sich die Stirn.
»Marie ist einfach nur abgehauen, Kim!«, sagte Sabrina eindringlich. »Es gibt hier keinen Serienkiller!«
»Serienkiller?« Plötzlich stand Jonas da. Interessiert musterte er Kim und auf seinem Gesicht erschien ein hinterhältiges Grinsen. »Du glaubst allen Ernstes, dass ein Serienkiller sich Marie geschnappt hat?« Die letzten Worte rief er so laut, dass die Umstehenden sie nicht überhören konnten.
Sofort richteten sich etliche Blicke auf Kim.
Sie spürte, wie ihr heiß wurde. Hinter ihrem Rücken begannen die Leute zu tuscheln.
»Die spinnt wirklich total!«, zischte jemand gerade so laut, dass sie es nicht überhören konnte.
Ihre Knie begannen zu zittern. Alles um sie herum drehte sich und Panik stieg in ihr hoch. Hektisch schnappte sie nach Luft, bevor die Wände anfingen, immer näher zu kommen.
Dann hielt sie es nicht mehr aus.
Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürzte nach draußen, quer über den sonnigen Schulhof und zum Tor hinaus. Irgendjemand kam ihr entgegen. Sie achtete nicht darauf und war schon im nächsten Moment auf der Straße.
Kim lief, so schnell sie konnte.
Weg! Bloß weg von hier! Vielleicht würde die Angst verschwinden, wenn sie einfach nur schnell genug rannte.
Erst als sie nicht mehr konnte und der rasende Atem sie in die Flanken stach, blieb sie keuchend in einer kleinen Seitenstraße stehen. Da wurde ihr bewusst, wer es gewesen war, der ihr am Schultor entgegengekommen war.
Lukas.
Es war Kim vollkommen egal, dass sie den Unterricht verpasste. In diese Schule konnte sie nicht zurückgehen. Ungefähr eine Stunde lang streifte sie ziellos durch das Wohngebiet, in dem sie nach ihrer kopflosen Flucht gelandet war. Einfamilienhäuser standen hier auf kleinen Grundstücken mit Schaukeln und Sandkästen. In einem Haus, dessen Fenster weit geöffnet waren, schrie ein Baby, in einem anderen dudelte aus einem Radio Schlagermusik.
Kim konnte beides nicht ertragen.
Sie ging immer weiter, bis sie schließlich am Ortsrand angekommen war, hinter dem der Wald begann. Von hier waren es nur noch fünf oder sechs Gehminuten bis zum
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