Schattenfluegel
hatte er offenbar kürzlich erst gestutzt.
Frau Keller lehnte sich vor. »Wir wollen dir nichts vormachen, Kim. Es kann durchaus sein, dass Ninas Mörder wieder unterwegs ist. Zumindest müssen wir zunächst mal davon ausgehen. Das ist auch der Grund, warum wir hier sind.«
»Wegen Lukas«, wisperte Kim. Sie hatte das Gefühl, nie wieder in ihrem ganzen Leben laut und normal reden zu können. Sie wollte weinen, aber ihre Augen gaben keine Tränen mehr her.
Frau Keller wandte sich an Sigurd. »Sie haben auf dem Revier angerufen und uns ausrichten lassen, dass Sie Lukas Neumann für den Freund von Nina halten, nach dem wir seit … damals suchen?«
»Ja.« Sigurds Miene wirkte gequält, so, als hätte er plötzlich starke Zahnschmerzen bekommen. »Kim hat es herausgefunden. Sie …«
»Ich will das selbst erzählen!« Kim legte für einen kurzen Moment den Kopf auf den Armen ab, hob ihn dann aber wieder. Stockend berichtete sie, wie sie Lukas gestern Ninas Tagebuch gezeigt hatte. »Er wollte es mir da schon sagen, aber er hat sich nicht getraut. Heute in der Schule habe ich dann einen Panikanfall gekriegt und bin weggelaufen. Ich habe mich im Waldschlösschen versteckt …«
»Im Waldschlösschen?«, fiel Frau Keller ihr ins Wort und auch Sigurd machte einen Laut, der Überraschung und Schrecken ausdrückte.
Kim ließ sich davon nicht beirren. »… und Lukas hat mich dort gefunden«, sprach sie weiter.
»Kim!« Sigurd war ganz blass geworden. »Du bist mit Lukas allein im …«
»Bitte, Herr Steinhauer«, unterbrach Frau Keller ihn. »Lassen Sie Kim weitererzählen.«
Sigurd konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Er presste die Lippen aufeinander und nickte Kim auffordernd zu.
»Er hat gesagt, er passt auf mich auf.« Kim schniefte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er …«
»Konzentrier dich auf das, was im Waldschlösschen passiert ist«, bat Kommissar Weidenschläger.
»Okay.« Kim schloss die Augen und rief sich die Szene ins Gedächtnis zurück. Wie Lukas sie umarmt und festgehalten hatte …
… wie gut sich das angefühlt hatte …
… wie er versucht hatte, ihr zu beichten, dass er Ninas Freund gewesen war. Wie sie aufgesprungen war und den tätowierten Wolf entdeckt, wie sie begriffen hatte …
Das alles erzählte sie den Polizisten und Sigurd jetzt. »Dann bin ich weggelaufen«, endete sie. »Er ist mir nicht hinterhergekommen.«
»Dann weißt du nicht, wo er jetzt sein könnte?«, fragte Frau Keller.
Kim schüttelte den Kopf.
»Nachdem Sie bei uns angerufen haben«, erklärte Jan Weidenschläger Sigurd, »haben die Kollegen versucht, Lukas ausfindig zu machen. Aber er war weder zu Hause noch in der Schule.«
»Er war es nicht!«, rutschte es Kim heraus. »Er war mit mir im Pascha, als Marie …«
»Wann genau ist er denn im Pascha angekommen?«, erkundigte sich Frau Keller.
Kim musste nachdenken, bevor sie antworten konnte. Sie war vielleicht zehn Minuten in der Disco gewesen, als sie Lukas an der Bar entdeckt hatte, und das sagte sie jetzt auch.
»Und wie lange fährt man von hier bis zum Pascha?«
»Eine halbe Stunde ungefähr.«
»Vierzig Minuten also«, murmelte Jan Weidenschläger.
Kim sah von ihm zu Frau Keller. »Was bedeutet das?«
Sie sah drei Augenpaare mitfühlend auf sich ruhen. Langsam schüttelte Frau Keller den Kopf, es war eine bedauernde Geste. »Wir wissen von deinem Stiefvater, wann Marie bei euch war, um dich abzuholen. Das war gegen sieben, stimmt’s?«
Kim bestätigte diese Zeit.
»Dem Pathologen nach liegt Maries Todeszeitpunkt irgendwann zwischen sechs und acht Uhr am Samstagabend.«
»Das bedeutet«, beendete Sigurd diesen Gedankengang, »dass Lukas genug Zeit gehabt hätte, sie zu ermorden, bevor er ins Pascha gekommen ist.«
Das Bild von Lukas an der Bar zuckte vor Kims innerem Auge auf. Die Art, wie er dort gelehnt hatte, so locker und von den bewundernden Blicken der älteren Mädchen völlig unbeeindruckt. Das Glas mit Cola in den Händen. Es war für Kim schlichtweg unmöglich, sich vorzustellen, dass er nur wenige Minuten vorher dieselben Hände um Maries Hals gelegt und zugedrückt hatte.
Ein Würgen stieg in ihrer Kehle nach oben und sie musste schlucken, um es zu unterdrücken.
»Ich glaube, es reicht jetzt«, wandte Sigurd ein. »Dieses Gespräch ist zu viel für Kim, wir sollten …«
Aber Kim wehrte ab. Sie sah Frau Keller direkt in die Augen. »Dann ist Lukas also ab jetzt Ihr Hauptverdächtiger, richtig?«
Es war Jan
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