Schattenfluegel
begriff sie jetzt. Jemand kam auf sie zu. Sie verspürte ein beklemmendes Gefühl von Angst, aber sie hatte keine Angst um sich selbst. Ganz im Gegenteil: Sie hatte Angst um den Menschen, der dort im Dunklen auf sie zukam! Das Licht veränderte sich, aber noch immer konnte sie nur Umrisse erkennen. Und dann, ganz plötzlich und überdeutlich, erkannte sie, wer es war, der dort direkt vor ihr stehen blieb.
Lukas!
Seine Augen waren weit, die Prellung auf der einen Seite seines Gesichts glühte dunkelrot. Über seine Wangen rannen Tränen. Er öffnete den Mund, aber kein Ton kam über seine Lippen. Und dann griff er nach Kim und sie erschrak. Seine Hände waren, genau wie bei Nina und Marie, mit Kabelbindern gefesselt.
Das war der Moment gewesen, in dem der Wecker Kim aus dem Traum gerissen hatte.
Jetzt schüttelte Sigurd den Kopf. »Du bist verrückt«, sagte er, schob ihr aber, wie jeden Morgen, die Packung mit dem Müsli und die Milch rüber.
Kim griff nach dem Müsli. »Wenn ich hierbleibe, werde ich verrückt!«, sagte sie leise. »Ich brauche etwas zu tun, damit ich aufhöre zu grübeln.«
»Du machst dir Vorwürfe, oder?«
»Dass Marie tot ist?« Es fühlte sich eigenartig an, es auszusprechen, aber es war leichter, als sie gedacht hatte.
Tot, dachte sie. Tot. Tot. Tot.
Langsam verlor sie wirklich den Verstand!
Sigurd nickte.
Kim überlegte, was sie ihm antworten sollte. Machte sie sich wirklich Vorwürfe? Sie wusste es nicht genau, aber auf jeden Fall ließen sich die Gedanken nicht abstellen. Hätte sie das alles verhindern können, wenn sie schon am Samstagabend Alarm geschlagen hätte? Was hatte sie abgehalten, Maries Mutter anzurufen und sie zu fragen, wo Marie blieb?
Sie gab sich die Antwort sofort selbst.
Lukas!
Es tat weh, nur an ihn zu denken, und so verbannte sie ihn schnell wieder aus ihrem Kopf. Hätte sich der Mord an Marie verhindern lassen, wenn sie angerufen hätte? Wohl eher nicht, wenn die Tatzeit stimmte, die der Pathologe bestimmt hatte.
Wieder geisterte ein Bild durch ihren Kopf. Sie sah sich mit Lukas tanzen, sah seine Hände auf ihren Schultern, auf ihrem Rücken. Hände, die kurz zuvor gemordet hatten. Doch dann verschwamm das Bild und machte einem anderen Platz. Lukas’ Gesicht aus dem Traum. Die Tränen, die ihm über die Wangen gelaufen waren.
»Du machst dir Vorwürfe«, sagte Sigurd. »Das sehe ich doch!«
Langsam nickte sie. »Irgendwie schon, ja.«
»Das ist ganz normal. Schließlich seid ihr in einer Art Streit auseinandergegangen.«
Es war so absurd, wie falsch er die ganze Sache einschätzte. Kims Schuldgefühle kamen schließlich nicht von dem blöden Hin und Her mit Marie vor dem Discobesuch. Kim überlegte, ob sie Sigurd erzählen sollte, was eigentlich in ihrem Kopf vorging, aber sie hatte einfach keine Energie dafür.
Stattdessen lachte sie bitter auf.
Das Geräusch schien ihn zu alarmieren, denn er sah sie erschrocken an. Sie wich seinem Blick aus.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Kleines«, sagte er. »Du siehst gar nicht gut aus.«
»Ich bin okay.« Kim wurde bewusst, dass sie ihr Müsli noch gar nicht angerührt hatte. Seit Beginn des Gesprächs saß sie mit dem Löffel in der Hand einfach nur regungslos da.
Sigurd legte den Kopf zur Seite. »Ich weiß nicht …«
»Bitte, Sigurd!«, murmelte Kim. »Wenn ich hierbleibe und diese bekloppten weißen Wände in meinem Zimmer anstarre, werde ich wahnsinnig!«
»Da draußen rennt irgendwo ein Mädchenmörder rum. Ich habe einfach Angst, dass er …«
»Wenn er es auf mich abgesehen hätte«, flüsterte sie, »dann hätte er genügend Gelegenheit gehabt, es zu tun.« Sie erschrak selbst, als sie sich hörte, und all die Momente, in denen sie mit Lukas alleine gewesen war, kamen ihr wieder in den Sinn. Aber sie dachte auch an den Ausdruck in seinen Augen, als die Polizei ihn mitgenommen hatte. Sah so ein Mörder aus?
Kim warf den Löffel auf die Tischplatte und stieß einen gequälten Schrei aus. Wann würden diese Gedanken sie endlich in Ruhe lassen?
»Ich muss in die Schule«, sagte sie. »Sonst renne ich mir den Schädel an der Wand ein!«
Sigurd holte tief Luft. »In Ordnung. Vielleicht hast du recht und es ist wirklich das Beste für dich. Aber wenn du es nicht mehr aushältst, dann rufst du mich an. Ich komme dann sofort und hole dich ab! Und noch eins: Du gehst auf keinen Fall alleine dorthin, bevor sie diesen Typen nicht geschnappt haben! Ich fahre dich!«
Kim wollte protestieren, aber sie
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