Schattenfluegel
zeichnete das Muster ihrer Gardine als gelbe Rechtecke auf die weiße Wand.
Für einen Moment war sie irritiert, wusste nicht mehr, warum sie mitten am Tag geschlafen hatte, doch dann kehrten alle Erinnerungen mit einem Schlag zurück. Und mit ihnen auch die Übelkeit und die Trauer.
Marie war tot!
Kim schwang die Füße aus dem Bett. Sie wusste nicht so recht, ob ihre Beine sie tragen würden, aber sie stand trotzdem auf. Jetzt erkannte sie auch, was es gewesen war, das sie geweckt hatte.
Die Türklingel.
Unten auf dem Flur wurden jetzt Stimmen laut.
Sie konnte Sigurd erkennen. Und Frau Keller.
Die Realität holte Kim nun mit voller Wucht wieder ein, sodass sie sich auf die Bettkante sinken lassen musste. Hatte sie eigentlich geträumt? Sie erinnerte sich kaum noch, nur ein paar Bildfetzen geisterten durch ihren Kopf. Nina mit gefesselten Händen. Marie. Eine Libelle, die nur noch einen Flügel hatte.
Ob der andere noch immer in Lukas’ Jackentasche steckte?
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Ihr Inneres war ein einziges Chaos.
»Kim?« Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Es war Sigurd. »Kim, die Polizei ist da. Kann ich reinkommen?«
»Ja«, sagte sie.
Er schob seinen Kopf durch den Türspalt und musterte sie. »Du bist schon auf. Gut. Ich fürchte, ich kann dir das jetzt nicht ersparen.«
»Kein Problem.« Kim löste eine Hand von der Bettkante und winkte Sigurd fort. »Geh schon runter! Ich komme gleich!«
Er zögerte, doch dann nickte er. Sein Blick ruhte für einige Sekunden auf dem unberührten Tee und der Schlaftablette. »Gut.« Leise zog er die Tür wieder zu und ging nach unten.
Die Treppe knarrte unter seinen Füßen.
»Sie kommt gleich«, hörte Kim ihn zu Frau Keller sagen.
Einen Augenblick blieb sie noch sitzen, um sich zu sammeln. Das hier konnte ihr niemand abnehmen, also würde sie sich zusammenreißen müssen. Sie stand auf. Ihre Beine waren erstaunlich wenig wackelig und auch die Kopfschmerzen ließen jetzt nach.
Kim warf einen Blick in den Spiegel neben ihrem Kleiderschrank. Ihre Wangen waren gerötet und warm, weil sie im Schlaf die Bettdecke über sich gezogen hatte. Es war einfach keine gute Idee, sich komplett angezogen hinzulegen, dachte sie.
Sie ging noch schnell ins Badezimmer und zog sich drei, viermal die Bürste durch ihre wirren Haare. Ihr Gesicht starrte ihr blass und fleckig aus dem Spiegel entgegen und sie streckte ihm die Zunge raus.
»Also los!«, kommandierte sie sich selbst.
Dann ging sie nach unten.
Kapitel 16
Doris Keller und Jan Weidenschläger erwarteten sie in der Küche, wo sie wie das letzte Mal am Tisch saßen. Nur dass sie diesmal keine Kaffeebecher in den Händen hielten und dass ihre Mienen sehr viel betroffener aussahen.
Rings um Frau Kellers Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben und sie wirkte blasser als sonst. Als Kim sie betrachtete, fiel ihr wieder ein, wie sehr die Kriminalkommissarin bei den Ermittlungen abgemagert war, als sie damals nach Ninas Mörder gesucht hatte.
Jetzt räusperte Frau Keller sich vernehmlich. Ein starker Zigarettengeruch ging von ihr aus. »Kim. Bitte, setz dich zu uns.«
Kim zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor und drehte ihn um, sodass sie sich rittlings darauf niederlassen konnte. Sie schlang die Arme um die Rückenlehne. Das gab ihr wenigstens ein bisschen Halt. »Ninas Mörder hat wieder zugeschlagen, oder?«, flüsterte sie.
Frau Keller räusperte sich erneut. Ihre Stimme klang flach, als sie antwortete: »Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen.«
»Aber es gab wieder eine Libelle.« Kim umklammerte die Streben der Lehne, so fest sie konnte. Der Boden unter ihren Füßen fing an zu schwanken.
Aus dem Augenwinkel sah sie Jan Weidenschläger nicken.
»Die gab es«, sagte Frau Keller. »Aber das ist noch kein Beweis dafür, dass es sich um denselben Täter handelt.«
»Die Libelle wurde damals geheim gehalten«, murmelte Kim. »Es kann kein Nachahmungstäter sein.« Sie überlegte, wem sie alles von diesem Detail in Ninas Mordfall erzählt hatte. Dr. Schinzel.
Und Lukas!
Sie rieb sich über die brennenden Augen. Auch Sigurd wusste davon, erinnerte sie sich, und mit Sicherheit noch eine ganze Reihe weiterer Menschen. Sie versuchte, so tief wie möglich durchzuatmen. Ihr gesamter Brustkorb schmerzte.
»Man kann so etwas nie vollständig geheim halten«, erklärte Weidenschläger nun. Er trug auch heute wieder seine altmodischen Turnschuhe. Seinen Schnurrbart
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