Schattenfreundin
Diabetes-Selbsthilfegruppen ausfindig zu machen. Jeder muss das Gruppenfoto und das Phantombild geschickt werden. Danach muss man mit allen Mitgliedern einzeln sprechen, nicht zu vergessen die Überprüfung der Anmeldungen für die Vorträge und die Abendessen. Es wird dauern, bis wir ein Ergebnis haben. Wenn wir überhaupt eins bekommen.«
»Gehen wir also davon aus, dass die Täterin Diabetikerin ist«, sagte Charlotte. »Vielleicht musste sie auch während ihrer Zeit als Kindermädchen zum Arzt gehen. Warte mal …«
Charlotte griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Schon nach wenigen Minuten legte sie den Hörer wieder auf und sah ihn enttäuscht an.
»Bens Mutter weiß nichts über eine mögliche Erkrankung. Sie kann uns zu Tanjas Privatleben kaum etwas sagen.«
Peter schüttelte den Kopf. »Wie kann man so wenig von der Frau wissen, der man sein eigenes Kind anvertraut.«
»Sie hat die Täterin nur selten privat gesprochen. Meistens haben sie sich nur kurz gesehen, bevor die Mutter zur Arbeit fuhr und wenn sie heimkam. Kurzes Austauschen, ob es etwas Wichtiges gab, und das wars dann«, sagte sie.
»Muss man mit so einer Krankheit eigentlich zum Spezialisten gehen?« Bei medizinischen Fragen war man bei Charlotte immer an der richtigen Adresse, auch wenn sie selbst Psychologie studiert hatte.
»Eigentlich sind Internisten dafür zuständig. Aber soweit ich weiß, gibt es spezielle Diabetologen. Entscheidend ist, dass der Patient medikamentös richtig eingestellt wird.«
»Okay. Dann lass ich die Diabetologen auch noch abklappern.« Er machte sich eine Notiz. »Könnte sie durch den Kauf bestimmter Lebensmittel aufgefallen sein?«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Das kannst du vergessen. Klar, sie müsste als Diabetikerin auf ihr Gewicht achten, aber das müsste sie als normale Übergewichtige ja auch. Da kommen wir nicht weiter. Ungewollte Kinderlosigkeit wäre noch ein Thema. Diabetikerinnen haben oft Schwierigkeiten, schwanger zu werden. Aber Kinderlosigkeit als Motiv? Dazu passt das ganze Drumherum nicht.«
»Das scheint viel verzwickter zu sein, als wir anfangs dachten«, sagte er. »Mit einer normalen Entführung hat das jedenfalls nichts mehr zu tun.«
Charlotte sprang von der Fensterbank und nahm einen Stift. Auf das Flipchart, das vor Peters Schreibtisch stand, schrieb sie Begegnung mit Christa Leifart .
»Die Begegnung mit Frau Leifart muss ein Schlüsselerlebnis gewesen sein«, sagte sie. »Nach unserem jetzigen Wissensstand kann sie dieses Treffen unmöglich geplant haben. Das auslösende Moment liegt also drei Jahre zurück …«
»… und fällt übrigens genau in die Zeit, in der Leo geboren wurde«, warf Käfer ein.
»Richtig.«
Charlotte schrieb Geburt Leo auf das Flipchart.
»Vielleicht hat sie also in zeitlicher Nähe sowohl von Ortrups Seitensprung als auch von der Geburt seines Sohnes erfahren«, überlegte er. »Aber wenn es da einen Zusammenhang geben sollte, warum wartet sie dann drei Jahre, bevor sie den Jungen entführt?«
Charlotte zuckte mit den Achseln.
»Vielleicht gab es vorher einfach nicht die richtige Gelegenheit? Ich schätze, dass die Tatmotivation sogar noch länger in ihr geschlummert hat. So etwas finden wir häufig bei Sexualstraftaten. Gerade Sexualstraftäter träumen oft jahrelang von einem Verbrechen. Sie lassen es immer wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen, wie einen Pornofilm, werden aber durch gesellschaftliche Schranken oder eigene Hemmungen immer wieder daran gehindert, die Tat zu begehen. Bis diese Hemmschwelle dann plötzlich wegfällt. Oft reicht dafür ein Zufall aus: eine Begegnung, ein Streit, ein falsches Weihnachtsgeschenk … Manchmal sind es Kleinigkeiten, die einen bis dahin unauffälligen Menschen zu einem gefährlichen Straftäter machen. Manchmal braucht es aber auch einfach nur die richtige Gelegenheit. Vielleicht war das bei Tanja auch so.«
»Könnte diese Tanja eine Sexualstraftäterin sein?«, fragte Käfer.
»Nein«, antwortete Charlotte bestimmt. »Dann hätte sie sich auch den kleinen Ben schnappen können.«
»Nach deiner Theorie müsste sie irgendein traumatisches Erlebnis gehabt haben. Und als zufällig der Name Thomas Ortrup fällt, kann sie sich nicht länger beherrschen«, sagte Käfer und trank den letzten Schluck Kaffee.
»Davon gehe ich aus. Ein Erlebnis, das sie schon seit Jahren mit sich herumgeschleppt hat und das immer wieder Rachegedanken in ihr hochkommen ließ. Wahrscheinlich hat sie nie gewusst, wie
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