Schattenfreundin
nicht so zu Herzen. In zehn Jahren wirst du darüber lachen.«
Dass das nur eine leere Floskel war, hatte sie irgendwann begriffen. Das schmerzhafte Gefühl von Liebeskummer hatte sich nie verloren. Doch im Gegensatz zu damals wusste sie heute, dass es Gefühle gab, die noch viel stärker wehtaten.
Sie nahm Leos Teddy und drückte ihn an sich.
»Wo bist du nur, mein Liebling, wo bist du nur?«
Ihr Leben war aus den Fugen geraten. Wie hatte das nur passieren können? Wieso schlug das Schicksal plötzlich so gnadenlos zu? Bisher hatte sie ein glückliches Leben geführt. Vielleicht hatte es manchmal ein bisschen viel Stress gegeben, aber sie war immer glücklich gewesen. Auf einmal sehnte sie sich nach diesem Stress zurück, danach, wieder in den normalen Alltag eintauchen zu können. Wie schön wäre es, wenn sie zum Kindergarten hetzen könnte, um Leo pünktlich abzuholen. Vorher noch schnell in den Supermarkt, vielleicht bei ihren Eltern vorbeifahren, um kurz mit ihrem Vater zu plaudern. Ja, wie schön wäre es, wenn sie wieder von einem Termin zum anderen eilen müsste und abends ausgelaugt, aber glücklich ins Bett fallen würde … Aber nun lag sie hier auf ihrem alten Bett. Allein. Ohne Leo, ohne Thomas, und ihren Papa gab es auch nicht mehr.
Katrin wollte nicht wieder anfangen zu weinen, und so rappelte sie sich hoch.
»Tee und Sandwiches sind fertig!«, rief ihre Mutter von unten.
Katrin seufzte. Sie konnte sich nicht vorstellen, jetzt auch nur einen Happen runterzubringen.
Sie trat auf den Flur und ging Richtung Treppe. An der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters blieb sie stehen.
»Ich komme sofort!«, rief sie nach unten, öffnete die Tür und ging hinein. Es war ein seltsames Gefühl, in dem abgedunkelten Raum zu stehen, der für sie als Kind immer tabu gewesen war. Als würde sie etwas Verbotenes tun. Das Zimmer war ihrem Vater heilig gewesen, sein Refugium, in dem niemand etwas verloren hatte und in dem erst recht nicht gespielt werden durfte. Ihr Vater hatte sich nach dem Abendbrot oft hierher zurückgezogen, wenn er nicht in die Praxis gegangen war, um dort den Papierkram zu erledigen.
»Das ist der Unterschied zwischen Hausarbeit und Heimarbeit«, hatte ihr Vater gescherzt, wenn Katrin und ihre Mutter den Abwasch machten und er in sein Arbeitszimmer ging.
Während sie sich jetzt umsah, fühlte Katrin sich fast ein bisschen schuldig. Das Gefühl, fehl am Platz zu sein, ließ sich kaum vertreiben. Irgendwann einmal hatte ihr Vater mit einem Augenzwinkern zu ihr gesagt, dass er in seinem ganzen Leben nur von Frauen umgeben sei, in der Praxis, zu Hause, eigentlich immer. Da brauche er abends einfach eine Auszeit.
Katrin schob die zugezogenen Vorhänge auseinander, damit Licht ins Zimmer fiel. Vorsichtig strich sie mit der Hand über die edle Seidentapete. Sie war cremefarben und hatte dünne weinrote Streifen. Um die Tapete nicht zu beschädigen, waren alle Bilder mit einem bestimmten Klebefilm befestigt worden, der sich leicht wieder abziehen ließ.
Typisch Papa, dachte Katrin und musste lächeln. Ihrem Vater war es immer schwergefallen, etwas zu beschädigen. Und selbst wenn es nur eine Tapete war, die durch einen Nagel ein kleines Loch bekommen hätte.
»Das liegt an meinem Beruf«, hatte er dann gesagt. »Ich habe schließlich einen Eid geleistet, dass ich erhalte und nicht zerstöre.«
Seufzend betrachtete Katrin die vielen Bilder, die so manche Erinnerung in ihr wachriefen. Neben einem alten Stich vom historischen, noch nicht kriegszerstörten Prinzipalmarkt hing ein Foto von Katrins erstem Schultag. Wie sie damals ausgesehen hatte! Zahnlücke und Zöpfe. Daneben entdeckte sie ein Foto von ihrem Vater auf irgendeinem Ärztekongress. Lachend stand er mit Kollegen zusammen. Katrin musste daran denken, wie auf der Beerdigung erzählt worden war, dass ein Kongress ohne ihren Vater nur der halbe Spaß gewesen sei. Lächelnd strich sie über das Foto.
»Alter Partylöwe«, sagte sie leise.
Dann wanderte ihr Blick über die anderen Bilder. Ein offizielles Familienporträt, aufgenommen bei einem richtigen Fotografen. Im Hintergrund eine beigefarbene Leinwand, Papa im dunklen Anzug, Mama im streng geschnittenen Kostüm und sie selbst in einer bunten Blümchenbluse und einem dunkelblauen Rock. Wie aus einer anderen Zeit …
Direkt daneben hing ein Foto von Leo. Er hatte Lizzie auf dem Arm und strahlte in die Kamera. Als Katrin spürte, dass ihr Tränen in die Augen traten, wandte sie sich
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