Schattenfreundin
schnell um. Sie stand hinter dem großen schwarzen Schreibtischstuhl und strich über das glatte Leder. Vorsichtig beugte sie sich hinunter und roch daran. Täuschte sie sich, oder roch es noch nach dem herben Aftershave, das ihr Vater immer benutzt hatte?
»Papa«, sagte sie traurig. »Wo bist du jetzt? Ist Leo schon bei dir, Papa?«
Der Gedanke machte ihr Angst. Schnell zog sie die Vorhänge wieder vor und verließ beinahe fluchtartig das Zimmer.
Das Skywalker war eine düstere Bar in Bahnhofsnähe. Dichter Zigarettenqualm drang Charlotte entgegen, als sie die Tür öffnete. Jeder der vielleicht zehn Gäste auf den Barhockern oder an den abgestoßenen Tischen, auf denen kleine Vasen mit grellbunten Plastikblümchen standen, schien gedankenverloren vor sich hin zu rauchen. Irgendein deutscher Schlager, der vor ewigen Zeiten mal ein Hit gewesen war, dudelte aus mehreren kleinen Lautsprechern durch den Raum und überlagerte den Ton des Sportreporters, der aus einem Fernseher schräg über einem Durchgang nach hinten irgendein Fußballspiel kommentierte. Hinter der Theke stand eine übergewichtige Mittvierzigerin, grell geschminkt und tief dekolletiert. So würden einfallslose Drehbuchautoren sich eine Puffmutter vorstellen, dachte Charlotte, als die Frau ihr ein Glas Cola light über den Tresen schob.
Was machte sie hier eigentlich? Plötzlich kam sie sich albern vor zwischen all diesen Männern, die wahrscheinlich kein schönes Zuhause hatten – oder gar keins. Eigentlich hatte sie nur ausgehen wollen, so wie sonst auch, einen Zug um die Häuser machen, an etwas anderes denken als an den Fall. Dann war das Gewitter gekommen, und sie hatte sich hier herein geflüchtet.
Warum hatte sie sich nicht ein Taxi geschnappt und war zu Bernd gefahren? Die Nachricht, die er ihr auf die Mailbox gesprochen hatte, war genau richtig gewesen, nicht zu aufdringlich, nicht zu unverbindlich. Warum rief sie nicht wenigstens zurück? Damit sie sich nicht eingestehen musste, dass sie ihn nett fand? Dass es bei ihm anders war als bei all den anderen Männern vor ihm, die ihr herzlich egal waren? Stattdessen hockte sie jetzt in dieser bescheuerten Bar, trank eine Cola light und dachte nach. Über den Fall und über ihr Leben.
Sie hatte es als gutes Zeichen gewertet, dass Katrin Ortrup vorübergehend ausgezogen war. Wenn beide Elternteile etwas mit dem Verschwinden ihres Kindes zu tun hätten, dann wären sie garantiert zusammengeblieben. Wer so etwas gemeinsam machte, ließ sich nicht von einer Lappalie wie einem Seitensprung auseinanderbringen.
Nein, die beiden hatten kein Verbrechen begangen. Dann hätte ihre Reaktion anders ausgesehen. Es hatte nicht einen einzigen Moment des Zögerns gegeben, der Verunsicherung oder des Taktierens. Katrin und Thomas Ortrup hatten auf die Vorwürfe mit überzeugend wirkender Fassungslosigkeit reagiert. Charlotte wusste aus eigener Erfahrung, dass das die einzig ehrliche Reaktion war, zu der man in einer solchen Situation fähig war. Bei ihr war es damals nicht anders gewesen.
Es bestand allerdings noch die Möglichkeit, dass einer der beiden ohne das Wissen des anderen für das Verschwinden des Kindes verantwortlich war, die Tat selbst aber verdrängt hatte. Das konnte aber nur auf Katrin Ortrup zutreffen, da sie als Einzige behauptet hatte, Leo sei zusammen mit dieser Tanja weggegangen. In solchen Fällen hatte man gute Erfahrungen gemacht mit Hypnose, unter der die Personen sich an ihre Tatbeteiligung erinnerten.
Aber wenn Katrin Ortrup tatsächlich in den Fall verwickelt war, von wem stammte dann die SMS, die sie nach dem Verschwinden ihres Sohnes bekommen hatte? Wer wusste zu dem Zeitpunkt überhaupt schon davon? Thomas Ortrup natürlich, eventuell irgendwelche Freunde, mit denen die Eheleute telefoniert hatten. Sie würden überprüfen müssen, ob jemand von denen etwas mit der SMS zu tun hatte.
Vielleicht wollte jemand Katrin Ortrup schützen? Ihre Mutter zum Beispiel? Charlotte nahm sich vor, die Handynummer von Luise Wiesner überprüfen zu lassen.
Sie seufzte und bestellte sich ein Wasser. Je mehr sie über den Fall nachdachte, desto überzeugter war sie davon, dass irgendetwas nicht stimmte in der Familie. Auch wenn Katrin Ortrup nicht direkt verwickelt war in das plötzliche Verschwinden ihres Kindes – Charlotte hatte das sichere Gefühl, dass die Familie der Dreh-und Angelpunkt zur Lösung des Falles war. Und ihr Gefühl hatte sie noch nie getrogen …
Welche Bedeutung hatte die
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