Schattenfreundin
ja«, sagte Katrin leise. »Da können Sie mich selbstverständlich jederzeit erreichen.«
»Schatz, das kannst du doch nicht machen!«, sagte er. Er wollte sie berühren, doch sie entzog sich ihm. »Bitte, bleib hier und lass uns über alles reden! Ich schwöre dir, das ist alles nur ein riesengroßes Missverständnis!«
Katrin stand auf und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich um. Lange blickte sie Thomas an.
»Ich kann nicht mehr«, sagte sie schließlich. »Und ich will auch nicht mehr. Was immer du getan hast, ich will mich nicht auch noch darum kümmern. Ich brauche meine Kraft für meine Kinder. Und für mich.«
Dann ging sie hinaus. Mühsam stieg sie die Stufen hoch. Sie wollte ein paar Sachen einpacken. Aber was? Ratlos stand sie im Schlafzimmer. Dann ging sie wieder hinaus und öffnete die Tür zu Leos Zimmer. Ihr Blick fiel auf seinen Teddy. Er hatte immer noch die Krawatte um den Hals. Sie strich ihm über den Kopf und nahm ihn an sich.
Schließlich ging sie wieder nach unten. Während sie im Flur nach ihren Schlüsseln und ihrer Handtasche griff, hörte sie die Stimme des Hauptkommissars.
»Frau Gerber hat bei den Kollegen Anzeige erstattet wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung …«
»Die tickt doch nicht ganz sauber!«, schrie Thomas.
»Herr Ortrup, Ihr Sohn ist verschwunden, und zur gleichen Zeit beschuldigt man Sie eines gewalttätigen Übergriffs. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet?«
Katrin hielt inne.
»Wollen Sie damit andeuten, ich könnte meinem Sohn etwas angetan haben?«, hörte sie Thomas sagen.
Ohne die Antwort des Hauptkommissars abzuwarten, verließ Katrin das Haus.
Wenig später klingelte Katrin an der Tür ihres Elternhauses. Schmerzhafte Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Als sie das letzte Mal mit Leo hier gewesen war, hatte ihr Vater noch gelebt. Damals hatte ihre heile Welt einen tiefen Riss bekommen. Zuerst die schreckliche Sache mit der Katze …
Ihre Mutter öffnete die Tür. Wortlos nahm sie Katrin einfach in den Arm. Sie stellte keine Fragen, stattdessen bezog sie das Bett im alten Kinderzimmer und legte frische Handtücher bereit.
»In deinem Kleiderschrank sind noch ein paar Sachen von früher«, sagte sie. »Ein Schlafanzug ist bestimmt dabei. Ich mache uns was Leckeres zum Tee.«
Katrin nickte nur und ging die Treppe hinauf. Als sie ihr altes Kinderzimmer betrat, hatte sie das Gefühl, in ein tiefes Zeitloch zu fallen. Sie wusste natürlich, wie es darin aussah, aber heute fiel ihr zum ersten Mal auf, wie sorgsam ihre Eltern die Vergangenheit ihres einzigen Kindes gehütet, ja geradezu konserviert hatten. Alles sah noch genauso aus wie vor zwanzig Jahren. Ihre alten Poster hingen an der Wand, und ihr Globus stand immer noch auf dem Schreibtisch aus hellem Kiefernholz. Ein inzwischen ziemlich verblasster Bravo -Starschnitt von Frankie goes to Hollywood klebte an ihrem Kleiderschrank. Welche Poster würden eines Tages wohl an den Wänden in Leos Zimmer hängen? Bestimmt irgendwelche Fußballstars, dachte Katrin. Er war doch jetzt schon so vernarrt in Fußball … Leo, mein Liebling, wo bist du jetzt? Geht es dir gut? Sorgt Tanja auch gut für dich? Bekommst du genug zu essen? Sei nicht traurig, bald sind wir wieder zusammen, bald … Aber wenn Leo verschwunden blieb, wenn er vielleicht schon … Um Gottes willen, nein! Sie durfte diesen Gedanken nicht zu Ende denken.
Katrin legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Sie war ihrer Mutter dankbar, dass sie sie nicht mit Fragen bedrängte. Sie war zwar von Natur aus neugierig, aber sie hatte sich nie in Katrins Privatleben eingemischt. Das war Segen und Fluch zugleich gewesen. Einerseits gab es keine peinlichen Gespräche mit ihrer Mutter über das erste Mal und wie man richtig verhütete, andererseits hätte sie sich manchmal doch mütterlichen Rat und Trost gewünscht.
Ihren ersten Liebeskummer würde Katrin nie vergessen. Sie war siebzehn gewesen, und für sie war eine Welt zusammengebrochen, als ihr Freund mit ihr Schluss machte. Wochenlang hatte Katrin auf diesem Bett gelegen und geweint, hatte alle Liebesbriefe verbrannt und den Freundschaftsring ins Klo geworfen. Sie hatte tagelang nichts essen können, trotzdem hatte ihre Mutter nicht ein einziges Mal gefragt, was mit ihr los war. Als Katrin ihr schließlich von sich aus erzählt hatte, dass ihre große Liebe sie verlassen hatte, hatte ihre Mutter ihr nur die Wange getätschelt und gesagt: »Nimm es dir
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