Schattenfreundin
Ah ja. Ihr Kinderzimmer. Zu Hause, bei ihren Eltern … bei ihrer Mutter. Sie schwitzte, ihr Nachthemd war klitschnass. Sie atmete tief durch. Okay. Alles klar, es war nur ein Albtraum, nur ein beschissener Albtraum.
Sie legte sich wieder hin, und weil sie plötzlich zu frieren begann, zog sie die Bettdecke hoch bis zum Hals. Sie starrte in die Dunkelheit und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber die Gedanken in ihrem Kopf ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
Nachdem die Beamten gegangen waren, hatte sie Thomas wieder nach Hause geschickt. Auch wenn sie bereit war, ihm zu verzeihen, hieß das nicht, dass sie schon wieder die Wohnung oder gar das Bett mit ihm teilen konnte. Außerdem wollte sie ihre Mutter jetzt nicht allein lassen. Wegen der E-Mail und der bevorstehenden Exhumierung war sie total durcheinander. Zum Glück hatte ihre Mutter ein Schlafmittel genommen, sonst würde sie jetzt vermutlich genauso wach in ihrem Bett liegen.
Tanja … Was für eine Frau war das? Was machte sie mit Leo? Quälte sie ihn? Ließ sie ihre Wut an ihm aus? Hatte sie ihn vielleicht sogar … Nein, diesen Gedanken wollte sie nicht zu Ende denken. Tanja war keine Mörderin. Nicht die Frau, mit der sie so viele Stunden auf dem Spielplatz verbracht hatte. Nicht die Frau, mit der sie Kaffee getrunken und die sie in ihrer Trauer tröstend umarmt hatte. Katrin konnte sich das nicht vorstellen, und sie wollte es auch nicht. Und was war, wenn sie Leo überschüttete mit Liebe? Wenn Leo längst Vertrauen gefasst hatte zu ihr? Wenn er jetzt in ihr seine Mutter sah? Wenn er sich nicht mehr nach ihr sehnte …? Nein, auch diesen Gedanken wollte sie nicht länger zulassen. Auch dann hätte sie Leo verloren, für immer …
Katrin seufzte und rollte sich auf die Seite. Sie sah zur Uhr. Viertel nach vier. Am besten, sie schlief noch ein bisschen. Aber wie sollte sie das schaffen? In diesem Augenblick hörte sie ein Geräusch an der Eingangstür, ganz leise nur, aber deutlich. Als würde jemand am Briefkasten hantieren. Vielleicht war ihre Mutter aufgestanden und holte die Zeitung herein? Aber so früh wurde die doch nicht gebracht, oder? Außerdem müsste sie eigentlich tief und fest schlafen.
Sie setzte sich auf und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Da war es wieder, dieses Klappern.
Katrin überlegte. Leise stand sie auf. Sofort zuckte sie zusammen, weil der Holzboden unter ihren Füßen knarrte.
Sie öffnete die Tür und schlich auf den Flur, der vom Mondlicht hell erleuchtet war.
»Mama?«, rief Katrin leise, aber ihre Mutter antwortete nicht.
Auf Zehenspitzen ging sie zum Fenster und schaute nach draußen. Die Straße vor dem Haus war von hier aus gut zu erkennen. Plötzlich sah sie jemanden über den Plattenweg huschen. Erschrocken hielt sie den Atem an. Wer sollte das sein? Die Person hatte einen langen Mantel an und eine Kapuze über den Kopf gezogen. Kein Zweifel, irgendjemand war an der Haustür gewesen. Was sollte sie jetzt tun? Bei der Polizei anrufen? Oder es gleich auf Charlotte Schneidmanns Handy versuchen? Aber die Person wäre längst verschwunden, wenn die Polizei endlich hier war.
Mit Wucht drängte sich ein hoffnungsvoller Gedanke in ihren Kopf. Und wenn es Tanja war? Wenn sie eingesehen hatte, dass sie etwas Unrechtes getan hatte? Wenn sie Leo nach Hause gebracht hatte? Wenn er jetzt unten vor der Tür stand …?
In diesem Augenblick hörte sie, wie ein Motor ansprang und ein Auto losfuhr.
»Leo!«
Katrin rannte über den Flur und stolperte die Treppe hinunter.
Erwartungsvoll riss sie die Haustür auf. Ein warmer Wind blies ihr ins Gesicht. Trotzdem zitterte sie am ganzen Körper.
»Leo?«
Katrin blinzelte in die mondhelle Nacht. Vorsichtig ging sie nach draußen und sah sich um. »Leo«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Wo bist du?«
Sie wollte schon wieder hineingehen, da fiel ihr Blick auf den Briefkasten.
Ein wattierter Umschlag steckte im Schlitz. Katrin nahm ihn heraus und sah ihn genauer an. Auf der Vorderseite klebte ein kleines getipptes Adressetikett, Grüße von Leo stand darauf. Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag und sah hinein.
»Was ist das …?« Vorsichtig zog sie den Inhalt heraus. Er war weich, himmelblau … ein T-Shirt mit den Sesamstraßen-Figuren … Leo hatte so ein T-Shirt … Es war sein Lieblings-T-Shirt … und es war voller Blutflecken …
Müde und frierend stand Charlotte Schneidmann neben dem Grab und beobachtete den Bagger, wie er Erde aushob und sie
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