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Schattenfreundin

Schattenfreundin

Titel: Schattenfreundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Drews
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auf die Seite auf einen immer größer werdenden Haufen schüttete.
    »Später geht es leider nicht. Ab sieben kommen die ersten Besucher«, sagte der noch junge Friedhofsangestellte, der sie zu der Grabstelle gebracht hatte, mit einstudiert freundlicher Stimme. »Stellen Sie sich vor, wir heben den Sarg heraus, während nebenan eine Witwe ihren Mann begießt …«
    Charlotte zwang sich zu einem Lächeln. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um den Anruf von Katrin Ortrup, die schluchzend berichtete, jemand habe Leos Sesamstraßen-T-Shirt bei ihrer Mutter in den Briefkasten gesteckt. »Es ist voller Blutflecken …« Dann hatte Charlotte nur noch ein ersticktes Weinen gehört.
    Sie hatte Bernd nicht wecken wollen, aber er war wach geworden und hatte mit sorgenvoller Miene beobachtet, wie sie sich rasch frisch machte und anzog. Gott sei Dank hatte er keine Fragen gestellt. Sie war sofort zum Haus von Katrin Ortrups Mutter gefahren und hatte das T-Shirt an sich genommen, damit es untersucht werden konnte …
    Ein dumpfer Schlag riss sie aus ihren Gedanken. Die Schaufel des Baggers war bis zum Sarg vorgedrungen. Der Arbeiter fuhr den Bagger ein Stück zurück, sprang in die Grube und arbeitete mit einer Schaufel weiter.
    Charlotte sah ihm gedankenverloren zu. Warum hatte die Entführerin Leos T-Shirt in den Briefkasten gesteckt? Was wollte sie damit bezwecken? Es gab nach wie vor keine Lösegeldforderung, das T-Shirt war also kein Druckmittel, um schneller an Geld zu kommen. Es sah so aus, als sollte es den Eltern zu verstehen geben, dass sie vollkommen machtlos waren.
    Diese Tanja schien einzig und allein daran interessiert zu sein, Katrin und Thomas Ortrup zu quälen, und Charlotte wusste immer noch nicht, warum. Es musste einen Grund dafür geben, denn sie hatte sich aus ihrer Deckung gewagt, um das Päckchen mit dem T-Shirt in den Briefkasten zu stecken. Auch wenn das Risiko, nachts um vier erwischt zu werden, vielleicht nicht besonders groß war, trotzdem war es riskant gewesen, schließlich hätte das Haus ja unter Beobachtung stehen können. Wusste Tanja womöglich, dass keine Beamten vor Ort waren? Und warum hatte sie den Briefkasten von Luise Wiesners Haus ausgewählt und war nicht zum Haus der Ortrups gefahren? Hatte Tanja heimlich verfolgt, wie Katrin und Thomas Ortrup sich verhielten? Empfand sie vielleicht sogar Genugtuung dabei? Oder hatte ihr womöglich jemand gesagt, dass Katrin Ortrup zuhause ausgezogen war? Aber wer? Thomas Ortrup? Hatte er tatsächlich etwas mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun?
    Charlotte rieb sich die Augen. Zumindest wussten sie jetzt, dass Tanja noch in der Nähe war. Ins Ausland hatte sie sich offensichtlich nicht abgesetzt. Und das Blut auf dem T-Shirt? Wenn es tatsächlich von Leo stammte, mussten sie davon ausgehen, dass der Junge verletzt war – oder womöglich sogar schon tot.
    Nein. Charlotte schüttelte den Kopf. Das passte nicht zu Tanjas Profil. Sie hatte sich über Wochen hinweg das Vertrauen von Katrin Ortrup erschlichen und schließlich deren Sohn entführt. Wenn es ihr nur darum gegangen wäre, Leo zu töten, wäre sie anders vorgegangen.
    Es war wie verhext. Als ob diese Tanja keine Spuren hinterlassen würde. Auf das Foto in der Zeitung hatte sich außer dem Vertreter niemand gemeldet. Dabei hatten sie große Hoffnungen darauf gesetzt, dass irgendjemand durch Zufall den kleinen Jungen mit seinen blonden Locken gesehen hatte, wie er in Begleitung einer Frau mit auffallenden Ohrringen aus einem Auto stieg, in einem Haus verschwand, was auch immer …
    Charlotte wusste, dass es für Eltern nichts Schlimmeres gab als die Ungewissheit über das Schicksal ihres Kindes. Wurde ein Kind tot gefunden, hatten sie die Möglichkeit, Abschied zu nehmen und zu trauern, und irgendwann hatten sie die Chance, mit ihrem Schmerz weiterzuleben. Aber wenn ein Kind verschwand und die Eltern nie erfuhren, was mit ihm passiert war … Wie eine nicht enden wollende Folter musste das sein. Zweimal in ihrem Berufsleben hatte Charlotte mit solchen Eltern zu tun gehabt. Und in beiden Fällen war es ihr schwergefallen, sich einzugestehen, dass sie diesen Menschen nicht helfen konnte.
    »Jetzt ist es so weit«, sagte der Friedhofsangestellte.
    Charlotte nickte nur und beobachtete den Arbeiter, wie er dicke Seile durch die Tragegriffe des Sargs zog. Er vergewisserte sich, dass die Seile fest saßen, und stieg aus dem Grab. Dann setzte er sich wieder auf seinen Bagger, fuhr ein Stück näher

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