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Schattenfreundin

Schattenfreundin

Titel: Schattenfreundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Drews
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passiert etwas, das dich aus der Bahn wirft und das dich zweifeln lässt an deinen Fähigkeiten …«
    Sie sah ihn fragend an.
    »Letztes Jahr ist so was passiert, auf einer Klassenfahrt nach Bremen. Meike …« Er schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Wein. »Sie war seit drei Jahren meine Schülerin«, fuhr er fort und sah gedankenverloren auf sein Glas. Dann atmete er tief durch. »Sie hat sich umgebracht. Die Pulsadern aufgeschnitten. Ich selbst habe sie gefunden. Es war furchtbar. Sie war gerade erst sechzehn geworden.«
    »Warum hat sie das gemacht?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Kaputtes Elternhaus. Viel Geld, aber kein Zusammenhalt. Wahrscheinlich hat sie sogar Drogen genommen. Alle Gespräche mit den Eltern haben nichts gebracht. Die haben das alles nicht ernst genommen. Und dann war es zu spät.«
    Sie nickte nur. »Machst du dir Vorwürfe?«
    »Das hätte niemals passieren dürfen. Niemals. Dieses Bild, wie sie da lag … überall Blut … Das kriege ich einfach nicht aus dem Kopf.«
    Charlotte musste schlucken. »Es kommt mitten in der Nacht«, sagte sie leise. »Du schläfst tief und fest, aber plötzlich ist es da, dieses schreckliche Bild. Ganz nah, direkt vor deinem Gesicht. Du wirst wach, zitterst, bist schweißgebadet und kannst nicht wieder einschlafen. Und du weißt, dieses Bild wird dich ewig verfolgen, bis an dein Lebensende …«
    Überrascht sah er sie an.
    Charlotte hielt den Kopf gesenkt. Dann räusperte sie sich, blickte auf und lächelte wieder. Aber es war ein gezwungenes Lächeln. »Der Fisch ist wirklich fantastisch«, sagte sie. »Wusstest du eigentlich, dass ein Seeteufel zwei Meter lang werden kann?«

9
    »Nein!«, schrie sie. »Stefan! Nein!«
    Sie stand im Türrahmen und sah das viele Blut. Sein kleiner weißer Körper lag in dem blutigen Wasser, der Kopf untergetaucht, die Augen vor Entsetzen aufgerissen. Sie wollte zu ihm laufen, wollte ihn aus der Wanne ziehen, ihn in die Arme nehmen, damit alles wieder gut war. Doch sie konnte sich nicht bewegen, sie fühlte sich wie festgewachsen. Hilflos sah sie zu ihrer Mutter, die wimmernd auf dem gekachelten Fußboden hockte, den Blick auf den leblosen Körper gerichtet, und schrie.
    Wie in Zeitlupe wandte ihre Mutter den Kopf und sah sie mit hasserfüllten Augen an. »Was hast du getan!«, kreischte sie. »Was hast du getan …!«
    Charlotte schrak hoch. Ihr Atem ging stoßweise, und sie war schweißnass.
    Bernd hob den Kopf. »Was ist denn los?«, fragte er und rieb sich die Augen.
    »Nichts! Schon gut, schlaf weiter«, sagte sie schnell.
    Er rollte sich auf die Seite. Charlotte sah auf die Uhr. Kurz vor sechs. Sie wartete, bis er wieder eingeschlafen war, dann stand sie leise auf und ging ins Bad. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild.
    Warum wollte sie Bernd eigentlich nichts erzählen? Hatte sie Angst, zu viel von sich preiszugeben? Oder hatte sie Angst vor seinem Mitleid? Denn Mitleid, das wusste sie, war das Schlimmste.
    Als ältestes von vier Kindern hatte sie schon früh Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen müssen. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als Charlotte sieben Jahre alt gewesen war. Er war mit seiner jungen Freundin nach Spanien gezogen. Charlotte hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
    Sie dachte an ihre Mutter, die allein zurückgeblieben war, verzweifelt und überfordert mit vier kleinen Kindern, enttäuscht von ihrem Mann, vom Leben und von der Liebe. Depressiv war sie geworden. Zuneigung hatte Charlotte nie von ihr erfahren. Und da ihre Mutter wegen der kleinen Kinder nicht arbeiten konnte, war nie genug Geld da.
    Charlotte war früh in die Rolle der Ersatzmutter hineingewachsen. Mit gerade mal sieben Jahren war sie es gewesen, die ihre Geschwister ins Bett brachte, während die Mutter auf der Suche nach günstigen Lebensmitteln zu den Supermärkten ging, wo die abgelaufenen Waren an Bedürftige verteilt wurden …
    Aber sie wollte nicht länger über die Vergangenheit nachdenken. Krampfhaft versuchte sie, die dunklen Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, die Gedanken an den 21. Juni 1979, den schlimmsten Tag ihres Lebens, doch es gelang ihr nicht …
    Ihre Mutter war wieder mal unterwegs gewesen. Stefan saß in der Badewanne, während sie Ina und Philipp ins Bett brachte. Sie sah es wieder deutlich vor sich, wie sie Philipp die Windel wechselte und gleichzeitig versuchte, Ina zu beruhigen, die sich den Kopf angestoßen hatte und laut weinte.

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