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Schattenfreundin

Schattenfreundin

Titel: Schattenfreundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Drews
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Gerade hatte sie Philipp ins Bett gepackt und Ina beruhigt, als die Schreie aus dem Badezimmer zu ihr drangen.
    Niemals würde Charlotte diese Schreie vergessen.
    Als sie ins Badezimmer kam, fand sie ihre Mutter, die inzwischen offenbar nach Hause gekommen war und schreiend vor der Wanne kniete. Stefan lag leblos im Wasser, das sich rot färbte von dem vielen Blut. Er musste ausgerutscht sein, wahrscheinlich war er mit dem Hinterkopf auf den Rand der Wanne geschlagen, und dann war er ertrunken, während Charlotte nebenan bei den Geschwistern war …
    Ihrer Mutter gelang es schließlich, den toten Stefan aus der Wanne zu ziehen. Weinend hielt sie ihn in den Armen.
    »Stefan! Mein Liebling!«, schluchzte sie. Dann sah sie zu Charlotte auf, den Blick voller Hass. »Du hast ihn umgebracht! Wieso hast du nicht aufgepasst? Wieso?!«, schrie sie.
    Noch heute hatte Charlotte die Worte ihrer Mutter im Ohr, noch heute hörte sie ihr Schreien und Weinen. Und immer wieder sah sie das blasse leblose Gesicht ihres Bruders vor sich …
    Sie hatte gehofft, mit der Zeit würde der Albtraum immer seltener kommen, und in letzter Zeit war es auch tatsächlich besser gewesen, aber jetzt quälte er sie wieder mit unerbittlicher Regelmäßigkeit. Ob es an dem Entführungsfall lag und an der furchtbaren Szene in dem alten Bauernhaus?
    Aufgewühlt ging sie unter die Dusche. Es war schon das dritte Mal, dass sie bei Bernd übernachtete. Als sie gestern Abend nach dem Papageno in stiller Übereinkunft in seine Wohnung gegangen waren, hatte er ihr lachend eine neue Zahnbürste entgegengehalten. »Die habe ich vorsichtshalber für dich gekauft«, hatte er gesagt und sie demonstrativ neben seine in den Zahnputzbecher gestellt.
    Charlotte war hin und her gerissen. Sie genoss das Gefühl, frisch verliebt zu sein und morgens neben Bernd aufzuwachen. Aber gleichzeitig war sie sich sicher, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte. Sie wusste, dass die Zeit von leidenschaftlichem Sex und verliebtem Geturtel irgendwann zu Ende war. Und dann war es unweigerlich so weit, dass man Verantwortung übernehmen musste, dass man Geheimnisse offenbarte, Zukunftspläne schmiedete, gemeinsam in den Urlaub fuhr, zusammenzog – und plötzlich über Familienplanung sprach. Das hatte sie nie gewollt. Und ihre größte Angst war, dass es diesmal anders laufen könnte. Dass sie diesmal genau das wollte: sich eine gemeinsame Zukunft ausmalen. Mit all der Endgültigkeit, vor der es ihr immer gegraust hatte.
    Woran mochte das liegen? An Bernd? An seiner unbeschwerten Art, sie zu umwerben? Vielleicht … An dem verschwundenen Kind? Früher war so ein Fall nichts Besonderes für sie gewesen. Sie hatte professionellen Abstand halten können und nie viel Verständnis gehabt für ihre Kollegen, die ihre Emotionen nicht im Griff hatten. Aber seit ein paar Tagen merkte sie, dass es diesmal anders war bei ihr.
    Seit dem Zwischenfall in dem alten Bauernhof, seit sie den kleinen Jungen in der Badewanne gesehen hatte, hatte sie das Gefühl, ihre mühsam errichtete Schutzmauer würde allmählich zusammenbrechen. Viele Jahre hatte sie gebraucht, um diese Mauer Stein für Stein aufzurichten. Sie hatte mehr Zement genommen als nötig, und sie hatte es schließlich geschafft, ihre schreckliche Erinnerung und die damit verbundenen Gefühle von Trauer und Schuld einzumauern. Aber jetzt bröckelte dieser Schutzwall. Charlotte war unsicher geworden. Sie wusste nicht, was passieren würde, wenn sie die eingemauerten Gefühle wieder zulassen müsste.
    Ihre trüben Gedanken lösten sich in Luft auf, als sie in die Küche trat und den gedeckten Frühstückstisch sah. Der Duft von frischem Kaffee erfüllte den Raum. Bernd stand am Herd und schäumte gerade heiße Milch auf.
    »Ich dachte, du schläfst noch«, sagte sie und nahm Platz.
    »Falsch gedacht.« Er setzte sich ihr gegenüber und goss Kaffee und aufgeschäumte Milch ein. »Was war heute Nacht eigentlich mit dir los? Du hast im Schlaf fast um dich geschlagen.«
    »Tut mir leid. Ein blöder Albtraum.«
    Bernd trank einen Schluck. »Worum gings?«
    »Ach, nichts Besonderes. Nicht der Rede wert.« Charlotte nahm sich eine Scheibe Brot und begann, Butter darauf zu streichen.
    »Und wer ist Stefan?«
    Charlotte musste schlucken. Sie hielt kurz inne, dann griff sie zum Marmeladenglas.
    »Du hast ein paar Mal den Namen Stefan geschrien. Wer ist denn das?«
    »Das war mein Bruder«, sagte Charlotte zögerlich. »Er ist gestorben. Vor vielen Jahren

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