Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
erwiderte Stranhorne sachlich. »Ich hoffe, dieses Gebot nicht noch eines Tages zu bereuen.«
Zu seiner eigenen wie zu Stranhornes Überraschung lachte Ishmael. »Wahrhaftig, es ist mir nie in den Sinn gekommen, danach zu fragen. Noch bevor mich mein Vater meiner Wege schickte, mussten meine Tutoren mich mit meinen Hosen an den Stuhl nageln, damit ich ihnen nicht davonlief. Das wäre in Ihrem Haus sicherlich ketzerisch gewesen, aber so war es nun einmal.« Er stellte sein noch immer halb volles Glas beiseite und fügte ernsthafter hinzu: »Aber ich wäre dankbar für die Version, die auch jemand verstehen kann, der keine Ahnung hat. Zunächst einmal, wer könnte überhaupt in den Schattenländern sein?«
»Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit«, antwortete Stranhorne. »Im zweiten und dritten Jahrhundert nach dem Fluch wurden etliche Expeditionen in die Schattenländer unternommen. Jene, die zurückkehrten, berichteten von einem unfruchtbaren und unbewohnten Land. Zuvor war Magie benutzt worden, um die Wettermuster zu verändern und Regen zu bringen. Jene, die weiter als etwa zweihundert Meilen ins Innere der Schattenländer eindrangen, kehrten nie zurück. Wir wissen nicht, warum. Gegen Ende des dritten Jahrhunderts tauchten Schattengeborene in den schriftlichen Aufzeichnungen auf und wurden während des vierten zu einem zunehmenden Ärgernis. Das veranlasste den Erzherzog schließlich dazu, seine Unterstützung für die Einsätze in den Schattenländern zurückzuziehen.« Dies führte zur Einrichtung der Grenzbaronien, zum Aufstand an den Grenzen, dem Unabhängigkeitskrieg der Grenzlande und schließlich zum Beschluss 6/29, der die stehenden Streitkräfte in den Grenzlanden verringerte. Diese Geschichte hatte man Ishmael nicht nur in seinen begriffsstutzigen, jugendlichen Schädel gehämmert, er hatte sich auch persönlich während der letzten fünfundzwanzig Jahre damit beschäftigt. Stranhorne fuhr fort: »Aber falls es Männer in den Schattenländern gibt – und ich erinnere Sie daran, dass ich dafür keinen Beweis habe – , würde ich spekulieren, dass sie Nachfahren der Magier sind, die an dem Fluch beteiligt waren, obwohl ich nicht erklären kann, warum sie achthundert Jahre hätten warten sollen, um ihre Existenz kundzutun.«
»Anders als durch die Schattengeborenen und den Ruf«, bemerkte Ishmael. Dieser Ruf – der Ruf in die Schattenländer – stellte Ishmaels persönlichen Fluch dar, eine bizarre Verhexung, die ein Vermächtnis seiner jahrelangen Streifzüge durch die Schattenlande war. Niemand wusste, wie er wirkte, aber jedes Jahr folgten ihm Dutzende Männer und Frauen aus den Grenzlanden, und von keinem hörte man je wieder. Sturheit, ein Sicherheitsabstand, vertrauenswürdige Wachen und gelegentlich Ketten hatten Ishmael auf der richtigen Seite der Grenze gehalten. »Fürst Vladimer wollte, dass ich in die Schattenlande gehe und das Rätsel löse. Er machte sich Sorgen, hinter der unnatürlichen Ruhe dieses Sommers könnte nichts Gutes stecken.«
»Er hatte zwar recht, aber das birgt Risiken für Sie«, gab Stranhorne zurück. »Sie vermuten, dass die Schattengeborenen, wie wir sie kennen, etwas damit zu tun haben. Nehmen wir einmal an, dem sei nicht so. Nehmen wir an, sie seien ein gänzlich davon getrenntes Problem.«
»Von meiner Warte aus scheint mir die Trennung rein akademischer Natur zu sein.«
Aufgrund des leicht aufsässigen Tonfalls zuckte Stranhornes Mundwinkel in die Höhe. »Obwohl – falls – es solche Magier gibt, ist diese Ruhe trotzdem eher überraschend angesichts der Art von … Kräften, die Magiern vor dem Fluch zugeschrieben wurden.«
»Die lichtgeborene Seite verfügt über eine nicht unbeachtliche magische Stärke«, bemerkte Ishmael. »Vielleicht haben die Schattengeborenen gezögert, sich mit den Lichtgeborenen anzulegen, und wir waren die Nutznießer.«
»Was meiner Meinung nach zwei weitere Fragen aufwirft: Erstens, wie viel wissen die Lichtgeborenen bereits über diese Bewohner der Schattenländer, sofern sie überhaupt existieren.«
Ishmael streckte seine behandschuhten Hände aus. Minhorne war nicht nur der Sitz beider Regierungen, sondern beherbergte auch den Tempel der Magier, der auf der anderen Seite des Sonnenaufgangs über die Magie herrschte und somit im Prinzip auch über die Magier bei den Nachtgeborenen. Es gab nur wenige nachtgeborene Magier, die von den Lichtgeborenen als stark anerkannt wurden. Die Lichtgeborenen hatten ihre Stärke
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