Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
mich spüren, obwohl ich sie nicht spüren kann«, sagte Jovance. »Aber ja, ich habe beinahe zu lange gewartet.« An Tam gewandt fügte sie hinzu: »Wieso bist du auf?«
»Nun … «, gab der Magier zurück, während er die Hände in den Taschen eines zerlumpten Morgenmantels vergrub. »Vielleicht hätte ich die Schüsse noch verschlafen können, aber als dann eins von diesen Dingern auf dem Dach über meinem Kopf landete … Ihr habt ja keine Ahnung, wie abscheulich diese Magie ist und ihr habt auch noch zugelassen, dass es auf jemanden losgeht.« Fejelis hoffte, dass sein Gesicht nicht so grün war, wie er sich bei dieser Erinnerung fühlte. Trotzdem grinste er vor Erleichterung, Tam wach und auf den Beinen zu sehen, auch wenn seine Lider so schwer und sein Gesicht so aschfahl waren wie das eines Mannes, der sich von einem dreitägigen Saufgelage erholte. Der Magier lächelte mit einem kläglichen Achselzucken zurück, als er sie betrachtete und sich für die Missstände ihrer Zuflucht entschuldigte.
Die laute und eindringliche Glocke ließ sie alle zusammenzucken. Jade sagte entsetzt: »Heilige Muttermilch, der Zug … « Sie alle hatten den Zug der Nachtgeborenen vergessen, auf dem Wachen draußen mitfuhren. »Ins Haus , sofort!« Er und Jovance sprangen nach rechts und links und sammelten die Lichter ein, während Fejelis Orlanjis mehr oder weniger in das Häuschen trug und ihn behutsam auf den Sessel absetzte, der dem Feuer am nächsten stand. Er würde sich später für die entstandenen Blutflecken entschuldigen. In Orlanjis’ geweiteten Augen verdrängten die schwarzen Pupillen fast die dunkle Iris. Er sah aus wie damals, als er erfahren hatte, dass sein Vater an der Dunkelheit gestorben war.
Tam sagte: »Flößt ihm heißes Wasser mit Honig oder Zucker ein, das wird den Schock mildern.«
Als Fejelis in das kleine Wohnzimmer zurückkehrte, verteilte Jovance die Lichter, die sie im Arm trug, im Türeingang, während Midha den Riegel an der Tür herunterfallen ließ. Sie sahen einander mit den benommenen Mienen von Überlebenden an, wie Fejelis sie nur allzu oft in seiner Nähe gesehen hatte.
»Sind sie weg?«, fragte Midha Jovance. »Ist der Zug in Gefahr? Befindet sich irgendetwas auf den Gleisen?«
Die Magierin senkte die Lider, bis ihre goldenen Augen halb geschlossen waren. Sie stand in der Ecke des engen, kleinen Raumes nahezu regungslos da und spannte nur die linke Hand an. Tam zog die Augenbrauen zusammen, als sei ihm unbehaglich. »Jetzt ist alles frei«, erklärte sie und machte einen Schritt auf die Sessel zu. Da sie besetzt waren, hockte sie sich auf Fejelis’ Pritsche neben dem Herd, zog die Knie an die Brust und verbarg ihr Gesicht.
»Sie braucht auch heißes Wasser«, bemerkte Tam sanft. »Und die anderen von uns vielleicht etwas Stärkeres.«
»Wage es ja nicht«, sagte Jovance und hob den Kopf. »Nur weil du dich gerade so väterlich gibst, bedeutet das nicht, dass du dich nicht überanstrengt hättest. Also lass die Finger davon.«
Im Stillen analysierte Tam diesen Satz, wobei sich seine Lippen bewegten. Jovance machte eine Geste, die Fejelis von den Straßen und der Leibgarde kannte, fing seinen Blick auf und blickte ihn verlegen an. Er schaffte es, sie anzugrinsen.
Das »Stärkere« war Bedeeth-Tee, ein Aufguss einer Wüstenwurzel mit stimulierenden Eigenschaften und einem Schuss von etwas, das Fejelis für Brandy hielt, bevor er davon gekostet hatte. Er fragte sich, wie der magische Schutz von Floria Weiße Hand darauf reagiert hätte. Tam nippte folgsam an seinem heißem Wasser mit Honig. Fejelis hockte neben Orlanjis, hielt seine Tasse fest und ignorierte das klebrige Gefühl an seinen Händen sowie die Tränen, die seinem Bruder übers Gesicht rannen. Sie verfielen in Schweigen und lauschten auf das anschwellende Geratter des herannahenden Zuges, der von einem nachtgeborenen Lokführer in dem Glauben über die Gleise gelenkt wurde, dass die vereinten Bemühungen von Nacht- und Lichtgeborenen die Schienen frei halten würden. Zu dem Lärm gesellte sich eine feine Vibration, die Fejelis durch seine Fußsohlen spürte. Dann verstärkte sich die Vibration zu einem Beben, und der Zug fuhr, begleitet vom Klappern des Tongeschirrs in der Küche, unter ihnen hindurch und verschwand in der Nacht. Einzig der Gestank des Maschinendampfs blieb zurück.
Er war nicht der Einzige, der seinen angehaltenen Atem ausstieß.
»Acht Waggons«, meinte Jade, »vielleicht neun.« Er sah Sorrel
Weitere Kostenlose Bücher