Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
mit den Fingern und versuchte, ein verfilztes Überbleibsel seiner kunstvollen Frisur zu entwirren. Unter seiner Wüstenbräune wirkte sein Gesicht blass. Orlanjis hatte viele Jahreszeiten in der Wüste bei ihrer südländischen Verwandtschaft verbracht und dort gejagt, seine Beute ausbluten lassen, ausgenommen, gekocht und gegessen.
»Wenn, dann brauche ich Sie beide«, erwiderte Jovance und erhob sich anmutig auf ihren muskulösen Beine, bevor sie ihre mit einem abgenutzten Lederhandschuh bedeckte Hand ausstreckte, um Fejelis hochzuziehen. Er versuchte sich einzureden, dass das Hemd, in dem er geschlafen hatte, lang genug war, um den Anstand zu wahren, auch wenn ein Luftzug damit spielte. Ihre Augen glitzerten schelmisch, als sie seine leicht vorgebeugte Haltung und seine zusammengepressten Knie bemerkte.
Um sie abzulenken und mehr zu erfahren, sprach er schnell weiter: »Züge, sagten Sie?«
»Ja. Es ist eine Stunde nach Sonnenuntergang. Ich möchte mich noch einmal entschuldigen, dass ich Sie so früh wecken musste, nachdem Sie diesen weiten Weg gelaufen sind und Tam dabei getragen haben.« Auf diese Erinnerung hätte mein Körper verzichten können, herzlichen Dank, Jovance. Er fühlte sich wie ein Neunzehnjähriger in einem neunzigjährigen Körper. »Von dem nachtgeborenen Haus Stranhorne wurde uns berichtet, es sei von etwas überrannt worden, was als eine Armee von Schattengeborenen beschrieben wurde, die einige Grenzgebiete überfallen haben soll. Letzte Nacht kurz vor Sonnenuntergang ist es den Flüchtlingen gelungen, sich zum Bahnknoten zurückzuziehen. Die Leute von Stranhorne sind grimmige Kämpfer und gut organisiert, das heißt, was immer in der Lage war, sie zu überrennen, verheißt nichts Gutes. Jetzt versuchen sie, Verwundete und Zivilisten per Zug zu evakuieren. Es fahren zwar bewaffnete Wächter mit, aber sie wollen, dass wir zwischen den Zugdurchfahrten Wachen postieren. Zum Glück sind wir zu sechst.«
Sie zählte Tam nicht mit, der durch den Kraftakt, sie drei herzubringen, kampfunfähig und bewusstlos in dem kleinen Schlafzimmer lag. Sie presste die Lippen aufeinander. »Vermutlich ist es nicht ganz das, worauf Tam gehofft hatte, als er Sie in die vermeintliche Sicherheit – hierher – gebracht hat.«
Ihm kam eine weitere, weniger dumme Frage in den Sinn, nämlich wie sie schießen konnten, wenn sie vom Licht in die Dunkelheit blickten, aber er beschloss, dass sich diese Frage von selbst beantworten würde. Ebenso wie die nächste: Ob Jovance in der Lage und dazu bereit war, ihre Magie offensiv einzusetzen, aber sie mussten nur abwarten, um auch das herauszufinden. Er vermutete, dass sie mächtig war, wusste jedoch nicht, wie mächtig.
Jade warf Fejelis Unterwäsche und ein Paar Hosen zu, am Unterschenkel ein wenig kurz, aber davon abgesehen passten sie ganz gut. Seine Kleider waren vollkommen verstaubt von dem Einsturz des gefallenen Turms. Fejelis zog sich an, stopfte sich das Hemd in die Hose, strich sich mit den Händen über das ungekämmte Haar und nahm ein ihm dargebotenes Gewehr entgegen. Er überzeugte sich davon, dass es nicht geladen war, und bemerkte die nachtgeborene Machart. Die blinden Nachtgeborenen sind gewiss geübt darin, auf einige Entfernung zu töten, dachte er grimmig. Das Gewehr hatte einen interessanten Zusatz. Parallel zum Lauf war ein langes Rohr mit einer Linse darin befestigt. Als er hindurchspähte, konnte er ein gewölbtes Glas glitzern und für einen Augenblick das gebündelte Licht in dessen Mitte sehen. »Einer von Tams Kunsthandwerkern ist auf diese Idee gekommen«, bemerkte Jovance, »und hat ein Teleskop an einem Gewehr angebracht.«
Er kannte Tams Kunsthandwerker, zumindest einige von ihnen. Er betrachtete sie auch als seine Kunsthandwerker, da er in Verkleidung ab und zu Gast in ihren Cafés und Werkstätten gewesen war. Jovance sagte: »Tam hat das Gerät«, sie zuckte leicht zusammen, »meinem Großvater beschrieben.« Ihr Großvater war bei der Zerstörung des Turms gestorben. »Auf Lukfers Veranlassung wurden einige Exemplare angefertigt und zu uns in den Süden geschickt, damit wir sie ausprobieren. Er hat sich Sorgen um uns gemacht. Wenn Sie es ertragen können, das Auge direkt auf dem Ende des Zylinders zu halten, vergrößert er alles erstaunlich gut und blendet das Licht der Umgebung aus.«
Fejelis betrachtete die Maserung des vernarbten Holzbodens und den knotigen Rand des Teppichs. Das Kribbeln um sein beschattetes Auge wuchs zu
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