Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
Vorurteile zeigen, aber was richtig für einen Mann ist, muss nicht richtig für eine Frau sein. Was richtig für deinen Vater war, muss nicht richtig für dich sein.«
Sie wandte sich ihm zu, und ein Lächeln ließ ihr hartes, schönes Gesicht sanfter erscheinen. »Das hast du früher schon gesagt.«
Aus dieser Nähe konnte er die kleinen Verdickungen und Veränderungen ihrer Haut peilen, und er begriff, dass ihr Gesicht übel zerschunden war. Ihre Stimme hatte heiser geklungen, aber er hatte es auf ihre Anspannung zurückgeführt. »Du bist verletzt«, sagte er und war schockiert, dass ihm dies noch nicht früher aufgefallen war.
Sie zuckte die Achseln. »Ich bin auf dem Rückweg vom Palast draußen vor dem Bolingbroke-Bahnhof mit einem Mob zusammengestoßen. Ich habe etwas Dummes gemacht und musste aus dem Springbrunnen gefischt werden.«
Er berührte sanft ihr Gesicht, aber sein Vorwand, dass es nur die Berührung eines Arztes war, brach zusammen, sobald er die seidige Wärme ihrer Haut spürte. Nun stand keine Wand mehr zwischen ihnen. Durch ihr Gewicht auf dem gespannten Netz des Bettes wurden sie leicht zueinandergedrängt. Es kostete ihn keine Mühe, sich zur Seite zu neigen, um die Entfernung zwischen ihren und seinen Lippen zu überwinden. Es wäre schwieriger gewesen, dem Sog zu widerstehen. Ihre Lippen waren zuerst kühl und fest, dann wurden sie weicher, als sie sich teilten. Ihr Atem strich über seine Lippen und beschleunigte sich. Ihre Hand legte sich fest um seinen Nacken, und sie fuhr ihm mit ihren Fingern durch das Haar.
Dann verstrich dieser Moment der Hingabe, und er zog sich zurück. Sie hielt ihn kurz fest, dann gab sie nach und ließ ihre Hand sinken. Er spürte noch immer ihre Berührung auf seiner sensibilisierten Haut und ihre Lippen auf seinem empfindsamen Mund.
»Entschuldige bitte, Floria«, murmelte er, zutiefst beschämt über sein Verhalten. »Das war nicht richtig.«
»Du wirst feststellen«, sagte sie nach einem Moment, »dass du nicht auf dem Boden liegst und dich fragst, welcher Schlag dich getroffen hat. Das wäre nämlich der Fall gewesen, wenn ich etwas dagegen gehabt hätte.«
Er öffnete den Mund, um sich noch einmal zu entschuldigen, schloss ihn aber wieder. Neun Jahre Ehe hatten ihn gelehrt, dass ein weiser Mann sich nicht für etwas entschuldigte, das eine Frau wollte, ganz gleich, wie töricht oder falsch es gewesen sein mochte.
»Es wäre seltsam gewesen«, fuhr sie fort, »wenn wir uns begegnet wären, ohne dass dies geschehen wäre.«
»Ich bin nicht ganz bei mir«, stammelte er. »Alles, was geschehen ist … Telmaine … « Reue vermischte sich nun mit seiner Trauer, dass er beinahe beide Frauen betrogen hätte, die ihm am meisten am Herzen lagen. »Es ist noch zu früh. Vielleicht … «
»Ja«, erwiderte sie in einem Tonfall, den er nicht deuten konnte. »Telmaine. Ich habe mit ihr gesprochen, kurz bevor ich den Palast verließ. Sie sagte mir, es sei sehr wichtig, dir auszurichten, dass sie und ich miteinander gesprochen haben.«
»Danke«, flüsterte er. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich im Moment in der Lage bin, mir ihre Nachricht anzuhören.«
»Das war die Nachricht. Als Telmaine in den Palast zurückkehrte und verhaftet wurde, herrschte Nacht. Als sie mit mir sprach, war es Tag. Warum sollten ihre Wärter ihr erlauben, mit mir zu sprechen? Warum sollten sie zulassen, dass sie mich befreite, während sie vorher keinerlei Anzeichen der Sorge zeigten, dass ich sterben würde, wenn mein Licht versagte? Balthasar, sie ist eine Magierin – eine sehr mächtige. Wenn sie nicht in dieser Zelle bleiben und sterben wollte, hätten sie sie nicht halten können.« Sie hielt inne. »Sie hat nur gesagt, es sei sehr wichtig, dir auszurichten, dass wir miteinander gesprochen haben, nicht, was ich dir erzählen soll. Ich selbst habe den Zusammenhang nicht sofort erkannt, und dann habe ich gewartet, bevor ich es dir erzählt habe, weil du vor dem Hof die Fassung bewahren musstest.« Sie wartete ruhig auf seine Antwort, und ihr Gesicht glich einer geschnitzten Maske.
Diese Gedankenkette war so töricht simpel. Er hatte die meisten Glieder selbst in der Hand gehabt – er wusste , was Ishmael ihm über Telmaines Stärke als Magierin gesagt hatte, und er wusste, dass sie sich nicht einfach unterwürfig in den Tod fügen würde. Er hätte diese Dinge miteinander in Verbindung bringen sollen und das auch getan, wäre da nicht diese abscheuliche Verhexung
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