Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
auf. »Emeya braucht dieses Tempelbündnis, aber sie will dieser Tatsache einfach nicht ins Gesicht sehen.«
»Warum?«, fragte Tam.
Die tief in den Höhlen liegenden Augen sahen ihn direkt an, dunkelblau und berechnend. Tam wünschte sich einmal mehr, er wäre Fejelis oder einer der Hohen Meister, alt und gerissen, statt nur ein stumpfer, verwirrter Bauer.
Neill erwiderte nichts, offensichtlich würde er diese Frage nicht beantworten, zumindest nicht jetzt.
»Warum bleiben Sie bei ihr?«, fragte Tam.
Neill antwortete: »Ich bin ein Magier. Ich will Wissen. Ich sehne mich danach, meine Macht anzuwenden. Das ist es, was mich hält. Ich könnte nicht nach all den Regeln Ihres Tempels leben.«
Tam kannte dieses Verlangen. Im besten Fall drückte sich dieses Begehren wie bei Lukfer aus, in seinen langen Jahren des Studiums, den unablässigen Bemühungen, seine unbändige Macht zu meistern, und der Großzügigkeit, jedem sein Wissen anzubieten, der es annehmen wollte. Es lag nicht an ihm, dass so wenige es getan hatten. Und im schlimmsten Fall … Er dachte, er hätte den schlimmsten Fall kennengelernt, als die Hohen Meister ihn mit einem Bann belegten, er vor ihnen auf dem Boden lag, und sie seinen Geist durchwühlten. Aber jetzt …
Jetzt hatte er Emeya kennengelernt und wusste, dass ihre Macht die des Erzmagiers und der Hohen Meister übertraf – auch wenn er versuchte, sich einzureden, dass Emeya ihn im Gegensatz zu den Hohen Meistern überrascht hatte. Und falls Emeya über magisches Wissen verfügte, das seit der Trennung verloren war, dann würden die Hohen Meister darauf erpicht sein.
»Sie sehen ziemlich entsetzt aus«, bemerkte Neill. »Worüber denken Sie nach?«
»Über Magie. Ihre Erzmagierin. Und die Hohen Meister.«
»Es ist normalerweise kein unerträgliches Leben. Nur in letzter Zeit … « Plötzlich wich alle Farbe aus seinem länglichen Gesicht. »Sie will mich sehen«, sagte er. »Verlassen Sie diesen Raum nicht, was immer pass…« Die schattengeborene Magie ballte sich zusammen, und er war verschwunden.
Tam würgte. »›Kein unerträgliches Leben‹«, zitierte er heiser in den leeren Raum hinein. Ein Fauchen aus dem Korb und unter dem Bett antwortete ihm.
Konnte er fliehen, während Emeya mit Neill beschäftigt war? Vielleicht hatte er noch genug Kraft, um sich zu heben , so ausgelaugt er sich auch fühlte. Er war verzweifelt genug, um es zu versuchen – nach Stranhorne oder selbst nach Minhorne. Wie Lukfer ihm immer wieder ins Gedächtnis gerufen hatte, bedeutete Entfernung eher eine geistige Barriere als eine körperliche. Sein Körper weigerte sich durch die Erinnerung an all die Kilometer, die er barfuß oder in löchrigen Stiefeln gegangen war, es allein der Magie zu überlassen. Doch sollte ihm die Flucht gelingen, würde er es dann wagen, mit diesen Informationen zu den Hohen Meistern zu gehen? Würde all diese Macht, all dieses Wissen sie abstoßen oder verführen? Würden sie ihm glauben oder denken, er habe sich in Emeyas Macht geirrt? Würden sie ihn zurückschicken, um ihre Bedingungen anzunehmen? Und welche Hoffnung gab es dann für Fejelis und die Erdgeborenen?
Er hatte eine schreckliche Vision von sich selbst, wie er zum Meister und Beschützer der Erdgeborenen berufen worden war sowie Neill als Meister und Beschützer von Tieren. Wäre sein Magen nicht bereits leer gewesen, hätte er sich übergeben. Eine Stimme schlängelte sich in seine Gedanken: ›Dann also nicht.‹
Die Vision war nicht seine eigene Versuchung, sondern ihre.
In blinder Verzweiflung streckte er seine Magie nach dem Erzmagier und den Hohen Meistern aus, fand aber nur Emeyas Präsenz und ihre Macht, die ihn niederdrückte. Sie sagte: ›Bleiben Sie ruhig, sonst … ‹ Er spürte, wie sich ihre Magie nach ihm ausstreckte, um ihm seine schützende Verhexung gegen die Dunkelheit zu entwinden, und wie er selbst dahinschmolz. Das Gefühl war so übermächtig, dass er für einen Herzschlag glaubte, es sei tatsächlich geschehen. Er fiel in den Sessel zurück und fühlte sich nahezu aufgelöst.
Er bemerkte nicht, wie der Wolf den Raum betrat, obwohl er die Wildkatzen fauchen hörte. Gerade noch rechtzeitig blinzelte er die Tränen aus seinen Augen weg, um zu sehen, wie der Wolf den Korb mit intelligenten, gelben Augen musterte. In einer lächerlichen Reaktion beugte sich Tam abrupt vor, weil er ein Raubtier gegen ein größeres verteidigen wollte. Dann erstarrte er, denn der Wolf richtete seinen
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