Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
drehte sich zu Tam um. Sein Gesicht wurde zur Hälfte von der frischen, orangefarbenen Sonne erleuchtet, die andere Hälfte lag im Schatten. »Sie haben gefragt, warum Atholaya zu klein für Emeya und Isolde ist, und warum Emeya neues Land braucht. Wie ich Ihnen erklärte, verankerten Imogene und die anderen den Fluch in Kindern. Nun bedenken Sie, dass Magie oft erst in seiner späten Jugend oder danach reift. Selbst magiegeborene Kinder hätten nicht die Stärke, eine Magie wie die des Fluchs aufrechtzuerhalten, deshalb musste Imogene diese Kinder verändern. Wir glauben, Isolde steht kurz vor der Wiederentdeckung, wie Imogene das gemacht hat – mit Ariadnes Hilfe. Vielleicht ist es ihr sogar schon gelungen. Sollte sie Erfolg haben, wird sie Emeya vernichten.«
»Und warum«, fragte Tam rau, »wäre das schlimmer, als Emeya«, und Ihnen, fügte er im Stillen hinzu, »zu erlauben, ungehindert fortzufahren?«
Neill warf ihm einen sehr langen Blick zu. »Aus diesem Grund: Was glauben Sie, auf welche Weise so viele von Isoldes eigenen Kindern und Enkelkindern gestorben sind?«
Telmaine
Jede Zugfahrt mit Vladimer scheint länger zu dauern als die vorangegangene, dachte Telmaine. Sie und Vladimer hatten nicht einmal das Abteil für sich allein. Fünf Offiziere der Strumheller’schen Truppe waren mit hineingezwängt worden. Sie sollte dankbar sein, dass sie im Gegensatz zu Vladimer nur neben zwei Männern saß und nicht neben dreien. Der Boden war schlammig, klebrig und übersät von Fetzen geölten Tuchs, seltsamen Kugeln und Zeitungsschnipseln. Als der Zug sich einen Hügel hinaufmühte, rutschte ein Flachmann unter ihrem Sitz hervor und prallte von ihrem Fuß ab, bevor er unter die Bank gegenüber glitt. In regelmäßigen Abständen tauchten er oder anderer Müll erneut auf. Das Abteil war zu überfüllt, als dass jemand hätte danach greifen können. Die Luft stank nach verschwitzten Männern, Seife, altem Rauch, feuchter Wolle, Öl und Munition. Der Waggon war nicht für eine Reise bei Tag entworfen worden, daher mussten alle Luftschächte geschlossen werden.
Vladimer und die Männer wirkten völlig ungerührt. Sie planten und fochten verbal Schlachten aus, genau wie ihre Brüder und deren Freunde es auf diesen unendlichen Sommerreisen zum Anwesen und wieder zurück getan hatten. Es fehlte nur noch ihre Schwester Merivan an ihrer Seite, die ihre Finger erhob, um Telmaine zu kneifen, sollte sie versuchen, an dem Gespräch der Jungen teilzunehmen.
Ishmael, dachte Telmaine gereizt, würde nicht die ganze Zeit mit Reden verschwenden. Ishmael war praktisch veranlagt. Er würde seine Waffen vorbereiten, seine Leute beruhigen und dann schlafen. Sollte Vladimer sich doch in Rage reden – sie hatte das Gefühl, dass das eben seinem Naturell entsprach – , aber Telmaine würde Ishmael nacheifern. Sie bewegte sich, bis ihr Kopf mit unbequem hochgezogenen Schultern mehr oder minder an der Wand des Abteils lehnte, dann atmete sie langsam ein und aus. Das erinnerte sie an Balthasars Bemühungen, sie vor der Geburt der Mädchen zu hypnotisieren. Wenn alles vorüber war – und sie musste glauben, dass es irgendwie vorübergehen würde – , würde sie etwas ganz Alltägliches tun, das nichts mit Magie zu tun hatte. Vielleicht noch ein Kind bekommen?
Sie nahm den Geruch von Zitronentee wahr, der durch die Ausdünstungen der in den Krieg ziehenden Männer trieb.
Ishmael saß auf dem Boden eines Zugabteils und reinigte seine Waffen. Sie konnte die große Hitze spüren, die von ihm ausging, gerade so, als sei er frisch in Ton gebrannt und zum Abkühlen hinausgestellt worden. Er hob nur langsam den Kopf, als sie das Wort an ihn richtete. Und seine Waffen waren seltsam. Gab es so etwas wie ein Gewehr mit zwei Läufen? Die Waffe konnte nicht ganz richtig sein, da sie in beide Richtungen zielte. Er hob den Kopf und peilte sie mit einem schrecklichen Bedauern. Dieser Gesichtsausdruck war ganz anders als jeder, den sie je an ihm gesehen hatte, und dann drückte er ab. Sie beobachtete, wie er fiel, so wie der Mann auf dem Bahnsteig, als der Pfeil aus Vladimers Gehstock ihn in den Bauch getroffen hatte. Sie berührte ihren Unterleib und spürte, wie ihre Hände in die Wunde sanken, die er ihr zugefügt hatte.
Eine Männerstimme erklang: »Prinzessin, geht es Ihnen gut?«
Ihr Bewusstsein kehrte wieder ins Abteil zurück, ihr Gesicht war nass von Tränen. Einer der Männer reichte ihr ein Taschentuch, das sauber und von guter
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