Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
hatte sie dies offensichtlich schon öfter gemacht. Möglicherweise sogar bei Ishmael, wenn man die Unbefangenheit bedachte, mit der sie den Magier berührte. Balthasar wartete, während sie die letzten Stiche verknotete. »Ich bin fertig«, sagte sie leise und begann, die Haut zu säubern. Ishmael nahm die Zähne auseinander und entfernte das von Zahnabdrücken gezeichnete Leder. Er riss ein Handtuch von dem Stapel neben sich und wischte sich das Gesicht und den schweißdurchnässten Haaransatz ab.
Balthasar räusperte sich, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Hearne«, sagte di Studier heiser, noch bevor er sprechen konnte. »Was hat Fürst Vladimer als Erstes gesagt, als er zu sich kam?«
»Er hat befohlen, uns nicht von der Stelle zu bewegen, sonst würde er uns erschießen.« Das würde er nie vergessen, denn sein Herz wäre beinahe stehen geblieben, als Telmaine sich bewegt und Vladimer direkt neben ihren Kopf in den Boden geschossen hatte. Er hatte nicht gedacht, dass Vladimer bluffen würde.
Ishmaels Schultern entspannten sich nicht. Bedächtig streckte er die gesunde Hand aus. »Berühren Sie mich«, sagte er. »Über dem Handschuh. Ich habe einen Grund für diese Bitte«, fügte er hinzu.
Balthasar zögerte, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Schattengeborener sich freiwillig so viel Schmerz von Laurel zufügen lassen würde, wie sie gerade Ishmael zugefügt hatte. Er zog die Manschette von dessen Handschuh herunter, suchte mit den Fingern den Puls und fand ihn. Er war durch die Schmerzen und die Folgen der Anstrengung schnell, aber stark und regelmäßig.
Der Puls stolperte, und Ishmael stieß zischend einen Atemzug aus. »Entschuldige«, murmelte Laurel.
Balthasar ließ Ishmaels Handgelenk los und trat zurück. »Fragen Sie mich«, forderte Ishmael ihn auf.
»Ich hätte Sie niemals berührt, hätte ich irgendwelche Zweifel gehegt«, erwiderte Balthasar, was der Magier sehr wohl wissen musste. »Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
»Erstens, ich hatte gerade Hautkontakt mit einem dieser Schattengeborenen.« Laurels Kopf fuhr herum, doch Ishmael, der Balthasar ansah, bemerkte es nicht. »Es war nicht beabsichtigt, glauben Sie mir. Das Ding starb und ist gegen mich getaumelt.« Er brach ab, und Balthasar begriff, dass er gegen Übelkeit ankämpfte. »Die schattengeborene Magie war widerlich.«
Laurel hielt beim Säubern der Wunde inne, um ihm ein kleines Handtuch zu reichen, das stark nach Pfefferminz roch. Ishmael wischte sich damit übers Gesicht und atmete den Duft tief ein. »Verflucht unangenehm«, erklärte er aus tiefstem Herzen.
»Aber aufschlussreich«, bemerkte Balthasar.
»Sie haben so eine Art … gleich aufs Wesentliche zu kommen.« Er hielt inne, als Laurel seine Hand abstützte und begann, seinen Arm zu verbinden. Sie hielt den Kopf schräg und lauschte. »Ein geformter Geist hat meinen berührt. Es war nicht der eines vernünftigen Menschen, aber auch nicht der eines Tieres. Bei diesem Ding muss es sich früher einmal um einen Nachtgeborenen gehandelt haben – dessen bin ich mir sicher.«
»Ishmael«, stieß Laurel entsetzt aus. »Das … konntest du spüren?«
»Jawohl. Ich sollte in deinem Beisein nicht über solche Dinge sprechen.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Vaters Verbot mag in der Vergangenheit einen Sinn gehabt haben, aber jetzt nicht mehr. Wir müssen wissen, gegen wen oder was wir kämpfen.« Mit einem Streich des Skalpells schlitzte sie den Verband auf und verknotete die Enden säuberlich um Ishmaels Handgelenk. »Also … verwandeln sie Nachtgeborene in Schattengeborene.« Sie hob den Kopf und peilte ihn. »Weiß Lavender davon?«
Dachte sie an den verlorenen Geliebten ihrer Zwillingsschwester? Oder daran, dass ihre Zwillingsschwester ungeschützt auf dem Dach stand?
»Ja, sie weiß es. Ich kann nicht genau sagen, ob sie Nachtgeborene in Schattengeborene verwandeln«, antwortete Ishmael. »Ich weiß nur, dass ihr Geist eher menschlich als tierisch ist, auch wenn die Schlussfolgerungen daraus nicht schön sind für jene, die wir verloren haben.« Er drehte den Kopf auf der Rückenlehne des Sessels. »Und zweitens, Hearne, nehme ich an, waren Sie nicht gerade im dritten Stock?«
»Nein«, bestätigte Balthasar beklommen.
»Dachte ich es mir doch. Allerdings habe ich jemanden gepeilt, der große Ähnlichkeit mit Ihnen hatte und versuchte, die Tür zur Tanzfläche auf dem Dach zu öffnen. Er ist weggelaufen, kurz bevor die
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