Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
Mitleid, dachte er und wies den Gedanken von sich. Dann holte er ihn wieder hervor, um ihn aufs Neue zu untersuchen. Seine Gedanken stockten vor Erschöpfung, trotzdem hatte er das Gefühl, etwas Wichtigem auf die Spur gekommen zu sein. Liebe mich, verlangte der Junge. Ein Erwachsener mochte die Wünsche eines Kindes aus Liebe missachten; als Vater zweier lebhafter kleiner Mädchen tat er dies häufiger, als er es je gewollt hatte. Dass er seine Gefühle für seine Töchter mit denen für diesen Jungen verglich, schien ihm unnatürlich. Sofern es eine Fluchtmöglichkeit für ihn gab, dann lag sie hier verborgen. Das spürte er.
Er würde seinen ganzen Verstand brauchen, um seinen Weg zu erkennen, wenn er sich vor ihm auftat. Statt gegen die Verhexung anzukämpfen und zu versuchen, den Raum zu verlassen, suchte er sich eine Decke und ein Kissen, legte Letzteres auf den Boden, wickelte sich in die Decke und streckte sich auf dem Teppich vor dem kalten Kamin aus.
Balthasar
Er wurde vom gedämpften Knistern eines achtlos geschichteten Feuers im Kamin und von seinem Bruder geweckt, der nach seinen nackten Füßen trat. »Hoch mit dir!«, befahl Lysander. »Ich erwarte Besuch. Du darfst den Diener spielen.«
»Sebastien?«, fragte Balthasar zaghaft.
»Ja – oh, meine Gestalt.« Er feixte. »Gefällt sie dir?«
Sie gefiel ihm nicht. Die Erinnerungen an seinen Bruder drehten sich um Spott und Peinigungen, die bis zu offener Grausamkeit gereicht und mit der Überredung geendet hatten, Lysanders Kapitalverbrechen zu verbergen. Nichtsdestoweniger rebellierte er gegen den Gedanken, dass das lebende Abbild seines Bruders unter den Schattengeborenen weitergereicht wurde wie eine alte Socke. »Nein«, bestätigte er. »Sie gefällt mir nicht.«
Sebastien blickte finster auf ihn herab. Er trug einen etwas aus der Mode gekommenen, förmlichen Anzug, der zu dem Erben eines Fürsten gepasst hätte. Er mochte Lysander gehört haben, der sich gern teuer und über seiner Stellung gekleidet hatte. Der junge Magier schien sich von seinem Zusammenbruch der letzten Nacht erholt zu haben, aber er hatte eine hektische Energie an sich, die Balthasar von jungen Süchtigen und Kampfhähnen kannte, die von ihrer eigenen Verwegenheit berauscht waren. Erstere hatte er behandelt, Letztere im Allgemeinen übertrumpft.
»Ich muss älter wirken«, erklärte Sebastien, »sonst werden sie mir nicht zuhören.« Er trat wieder nach Balthasars Füßen. »Steh auf! Und zieh dir etwas Ordentliches an. Im Kleiderschrank wirst du fündig.«
Sebastien ging. Balthasar kroch aus seinem Bett. Er konnte nicht erkennen, wie spät es war; seine Uhr war einmal zu oft feucht geworden und stehen geblieben. Er vernahm auch keine vertrauten Geräusche, die ihm einen Hinweis gaben. In seinem und Telmaines Haus markierten die Routinen des Personals den Tag und die Nacht so klar wie die Glocken draußen. In dem alten, schmalen Gebäude, das er von seinen Eltern geerbt hatte, konnte er am Murmeln der Wände und des Daches, wenn sie sich unter der Sonne erwärmten, und an den Geräuschen von Floria Weiße Hand nebenan die Uhrzeit erkennen.
Seine Kleidung schien kaum trockener als zuvor; er konnte noch immer Wasser aus dem Ärmelbund wringen. Als er den Kleiderschrank durchsuchte, fand er ein Hemd, gebügelte Hosen – an der Taille zu locker und an den Beinen eine Spur zu lang – sowie eine förmliche Jacke und einen Mantel, beide schlicht und mit einem Geruch von müdem Lavendel und langer Lagerung behaftet. Er wusch sich, zog sich an und zuckte zusammen, als er die Narbe an seiner Seite dehnte. Dann fand er einen Kamm, zog ihn durch sein ungewaschenes Haar und beschloss, sich die Suche nach einem Rasiermesser zu ersparen. Obwohl er geschlafen hatte, fühlte er sich immer noch quälend bleiern – seine Müdigkeit war ebenso geistiger wie körperlicher Natur, und die Verzweiflung zehrte an seiner Kraft.
Sebastien stand im Vestibül, als Balthasar die Treppe herunterkam, und spielte mit einem großen, kunstvollen Türschlüssel. »Du siehst schrecklich aus«, bemerkte er, als würde ihn Balthasars ausgezehrtes Äußeres persönlich beleidigen.
»Ich bin in der Lage, alles Notwendige zu tun«, erwiderte Balthasar leise. Sebastien würde die versteckte Bedeutung und das Gebet in diesen Worten nicht verstehen.
Die Türglocke unterbrach Sebastiens Antwort. Den Schlüssel in der Hand ging er zur Tür hinüber. Sein Feixen über seine Schulter und seine erwartungsvolle
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