Schattengeschichten
was er auf dem Friedhof macht.“
Vincent erhebt sich und, zu seinem Erstaunen, folgt Lisa ihm auf den Fuß. Sie erreichen das nächste Loch im Gebüsch. Ging der Mann diesen Weg immer? Hat sogar er die Löcher in die Gebüsche geschnitten?
Sie erreichen die Straße und am fernen Horizont, dort, wo ein Gebäude in die Höhe ragt, verschwindet sein Mantel im Eingang.
„Mann, ist der schnell.“
Aber sie brauchen nicht zu laufen. Er wird dort bleiben, sie wissen es. Er schließt die Tür hinter sich.
„Wahrscheinlich arbeitet er hier.“
„Und was ist das für ein Haus?“, fragt Vincent.
Als die Kinder es erreichen, ist es größer als die Bäume. Schwarz und erdrückend ragt es nach oben, läuft spitz zu und am Dachrand thront ein mächtiges Kreuz. Einlass unerwünscht, sagt es. Hier kommt keiner rein, der unbefugt ist. Unzählige Fenster türmen sich an der Mauer. Nirgendwo brennt Licht, doch die Sonne lässt ihren Schein verblassen. Es ist spät geworden.
Vincent greift nach dem Knauf der schweren Holztür.
„Es ist offen“, sagt er und zieht sie auf. Ein knarrendes Geräusch ist die Begrüßung. „Hier hinein. Kommen Sie“, sagt Vincent und macht einen Buckel. „Willkommen bei Graf Dracula.“
„Haha“, sagt Lisa, nimmt all ihren Mut zusammen, all ihren Mut, und tritt ein. Sie versucht zu schleichen, doch jeder Schritt hallt wieder, in dem langen Gang, der an einer Treppe endet. Schatten spielen Streiche, lassen unbelebte Ecken und Winkel tanzen.
„Er wird uns hören“, flüstert Lisa, „außerdem ist es zu dunkel, um ihn zu finden.“
„Wir müssen nur dem Geräusch folgen, glaube ich“, sagte Vincent.
„Welchem Geräusch?“
Ein Schmatzen, ein Mampfen, wie immer man es nennen möchte, jemand speist im Krematorium auf dem Friedhof.
„Was isst der denn da?“ fragt Lisa und klammert sich an Vincents Arm.
„Ich weiß nicht.“
„Doch nicht etwa...“
„Ich weiß nicht. Bäh, ist das eklig. Das hört sich ja an, als würde der richtig rumsauen.“
„Pscht. Sei doch leise“, faucht Lisa. Ihre Angst.
„Bei den Geräuschen kann er uns nicht hören“, antwortet Vincent. Seine Faszination.
Es klatscht und matscht und spritzt und mampft. Jemand hat Spaß dabei. Vincent findet die richtige Tür. Sie ist offen und im Halbdunkel hat sich der Mann mit dem Mantel über eine Liege gebeugt. Er schlabbert und leckt und kaut und sabbert, genüsslich vor sich hin.
Die Kinder stehen wie versteinert. Ihre Beine sind Blei. Kein Millimeter zu bewegen, unmöglich. Sie müssen diese Szene immer und immer weiter betrachten, als gäbe es keine andere Möglichkeit, als wäre das ganze Leben dazu bestimmt, einen Mann zu sehen, der eine Leiche frisst.
IV
So weit die Augen aufgerissen. So fasziniert. So abgestoßen. Welch grausame Taten Menschen vollbringen, ist den beiden Kindern nur leidlich ein Begriff und dieser Mann erscheint wie im Horrorfilm. Wenn man nur den Sender wechseln könnte.
Lisa dreht ihren Kopf und blickt in das angewiderte Gesicht ihres Freundes. Vincent spürt die Bewegung und schaut zu ihr. Unwillkürlich ergreift er ihre linke Hand, das sie mit einer Last auf dem Herzen erwidert.
Lass uns verschwinden, sagen ihre Augen. Das ist zu real. Hier wollen sie nicht sein. Im Augenblick der Entschlossenheit peitscht die Stimme des Mannes durch die Luft. Rau, verschmiert und krächzend.
„Das ist kein Horrorfilm, Kinder.“
Sein Lachen ist hölzern, steif. Vincent und Lisa drehen sich zu ihm. Sein Körper hat sich vom angefressenen Leichnam entfernt. Streckte er seine Arme aus, er würde die Kinder berühren.
„Was...“, stottert Vincent, „Was haben sie jetzt vor?“
Wieder dieses Lachen, lauter, grausam. Das Echo ist eine Schlinge, die sich um ihre Kehlen legt. Enger und enger. Keine Möglichkeit zu fliehen.
„Na, mal sehen. Ihr habt mich verfolgt. Ihr wisst, was ich auf dem Friedhof mache. Und ich will keine Zeugen.“
Mit der rechten Hand kratzt er sich an der Stirn, hebt dabei seine Kapuze ein Stück an. Für einen Moment dürfen die Kinder seine Augen sehen. Seine leeren, weißen Augen. Tot. Ein Stück Haut fällt zu Boden und der Mann leckt sich mit einer schwarzen Zunge über die blutverschmierten Lippen. In den verfaulten Zähnen, die daraufhin zum Vorschein kommen, schimmert unzerkautes Fleisch.
„Ich habe zwar noch nie Kinder getötet, aber es gibt für alles ein erstes Mal, nicht wahr?“
Noch ein Schritt und er hat sie. Lisa drückt ihre Knie durch, die
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