Schattengeschichten
Menschen überfällt, kam Furcht und Zittern über mich und ließ erschaudern meine Glieder. Ein Geist schwebt an meinem Gesicht vorüber, die Haare meines Leibes sträuben sich. Es steht, ich kann sein Aussehen nicht erkennen, eine Gestalt nur vor meinen Augen.
„Aber wir haben nicht geschlafen“, sagt Lisa.
„Und wenn doch?“
Sie finden eine Eintragung über Vampire, insbesondere über Dracula, ein Querverweis zu seinen Untertanen. Auf Seite Hundert: Ghul ; der Ghul ist ein arabischer Geist, der in menschlicher Gestalt und mit abscheulichen Gesicht erscheint und Leichen zu stehlen pflegt.
„Er hat sie aber nicht gestohlen“, sagt Lisa.
Er spukt gewöhnlich an allen Orten, die der Beerdigung der Toten dienen, und seine besondere Vorliebe ist es,...
„Nein.“
...Kinderleichen zu entführen. Er wird oft mit vampirhaften Geschöpfen verglichen, hat aber, anders als diese, keine stoffliche Substanz, und alles, was mit ihm in Kontakt kommt, geht geradewegs durch ihn hindurch.
„Aber...“
Dennoch soll er sich von menschlichen Leichen ernähren. Soweit die Überlieferung.
Und die Wahrheit?
„Ich werde nie wieder auf den Friedhof gehen. Das schwöre ich dir, Lisa.“
„Ich auch nicht.“
Die Kinder erzählen Holger nichts von ihrem Erlebnis. Sie wollen nur vergessen und sie hoffen, nie wieder einem Ghul zu begegnen.
Welt in Spiegeln
I
Die anderen Fahrgäste denken wohl, ich blicke aus dem Fenster, geistesabwesend und gedankenverloren. Einer von diesen, denken sie, die unausgereiften Träumen nachhängen oder hinterher laufen und oftmals vergangene Liebschaften erinnern, die zwar endeten, aber im Spiel des Lebens eine süße Narbe in der Seele hinterließen. Vielleicht denken sie gar nichts über mich. Um so besser.
Meinen Kopf habe ich nach rechts gedreht und das Innere des Bahnwaggons spiegelt sich im Fenster. Meine Augen interessieren sich für Objekte, die von anderen kaum beachtet werden. Auch im Dunklen der Tunnel erblicke ich sie. Die Wesenheiten, die exakten Abbildungen der Fahrgäste gleichen. Nur seitenverkehrt.
Jeden Morgen fahre ich eine halbe Stunde mit der Bahn und ich habe mir angewöhnt, pünktlich zu sein. Nie mehr diese Verspätungen, nie mehr verärgerte Stimmen meiner Vorgesetzten. Eigentlich will es mir egal sein, aber gesellschaftliche Konventionen zu übergehen gehört nicht zu meinen Stärken.
In meinem Gemüt brach Etwas vor langer Zeit. Ich will an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, denn schon der Gedanke an die menschlichen Niederlagen, die ich einstecken musste, lässt meine Seele weinen. Sie sollen nur wissen, dass meine Angst vor den Anderen stetig zunahm und seitdem jede Konfrontation mit ihnen an meinen Nerven zerrt. Diese Abneigung und Furcht leitet mein Leben, obwohl ich ein recht geselliger Mensch bin.
Meine Freunde, an einer Hand abgezählt, erfahren von mir grenzenloses Vertrauen und wahre Zuneigung. Allerdings frage ich mich manchmal, wie ich überhaupt jemanden kennen lernen konnte, wenn meine Augen immer ausweichen.
Ich suchte eine Möglichkeit, Menschen betrachten zu können ohne konfrontiert zu werden. Unbewusst. Die Suche gelang und am Ende fand ich die Reflexionen des Lichts in Fenstern und die unzähligen Spiegel in Kaufhäusern und öffentlichen Einrichtungen.
Mein Selbstwertgefühl verharrte weiter im Nichts, aber meine Ahnung von der Welt wurde zur Gewissheit. Unter der lebhaften Fassade schlummert ein ruhiger Kern, der sich nach Frieden sehnt. Und diesen Frieden habe ich gefunden, weil ich die Welt in Spiegeln betrachte. Distanziert und trotzdem oder gerade deswegen im Geschehen.
Im Winter ist es noch dunkel, wenn ich zu meiner Arbeit fahre. Dann reflektieren die Fenster präziser als es die Wirklichkeit vermag. Gespiegelt umgibt jeden Menschen ein Geheimnis, das sich in Gestalt seiner Aura präsentiert.
Viele Fenster sind doppelt beschichtet und damit verdoppelt sich auch das Gespiegelte. Ein Fahrgast wird mit sich selbst übersetzt, nicht deckungsgleich, und daher glaube ich stets, seinen Energieschein wahrzunehmen, ganz so wie es in diesen spirituellen Büchern steht.
Es scheint mir, als ob ich genau weiß, wie ein Mensch fühlt, wenn er den Waggon betritt, und seine Charakterzüge offenbaren sich in einer einzigartigen Weise.
Nicht nur sein Gang, die Kleidung und der Gesichtsausdruck verraten ihn. Es ist die gespiegelte, verdoppelte Gestalt seiner Selbst. Er weiß es nicht, die anderen Fahrgäste nehmen es nur am Rande wahr,
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