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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hauke Rouven
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aber ich bin der Betrachter mit dem durchschauenden Blick. Mir kann sich keine Erkenntnis entziehen.
    Das mag vielleicht eigentümlich klingen, ist es aber nicht. In mir schlummert die Wahrheit, die viele nicht kennen. Wenn unsere Welt nur Schein ist, dann ist ihre Kehrseite, nämlich die gespiegelte, ihr wahres Ich. Und so glaube ich, dass ein Mensch sich erst erkennt, wenn er offen und ohne Furcht in den Spiegel schaut.
    Wenn ich mein Bild sehe, dann tritt all das Selbstwertgefühl, das mir fehlt, in meinem seitenverkehrten Ich umso mehr in Erscheinung. In Spiegeln empfinde ich keine Furcht. Meine bessere Hälfte ist mein transparentes Ich im Glas.

    II
    Ich lächle mir gerne zu und ziehe Grimassen, die mich zum Lachen bringen. Noch lieber sind mir die Spielchen, die ich mit den gespiegelten Menschen treibe, indem ich Geschichten für ihre Leben erfinde. Die Wahrheit hat dort keine Bedeutung. Mir ist wichtig, dass ich etwas weiß, was sie nicht wissen.
    Dieser irreale Entdeckungsdrang nahm in einer bestimmten Phase meines Lebens ungewöhnliche Ausmaße an. Es war, wie jetzt, während ich erzähle, Winter in Hamburg und ich fuhr in der Bahn, Richtung Niendorf, weil dort John wohnt, ein Freund, den ich seit meiner Schulzeit kenne. Ich stieg in Barmbek ein, es war dunkel draußen und dicke Schneeschichten bedeckten Asphalt, Häuser und jeden weiteren Zentimeter der Stadt. Mir saß ein Mann gegenüber, dessen Alter schwer zu schätzen war. Er hatte ein freundliches Gesicht, dass von Falten gezeichnet war. Und er schlief, während der gesamten Fahrt. Sein Körper jedenfalls. Ich nutzte die Möglichkeit seines Schlummers und betrachtete ihn sehr eingehend, im Fenster natürlich.
    Umso mehr erschrak ich, als er plötzlich die Augen öffnete und mich anstarrte. Sofort zog ich meinen Blick aus der Spiegelwelt und fand den Mann in der Realität weiterhin schlafend vor. Doch sein gespiegeltes Ich hatte die Augen geöffnet. Er lächelte.
    „Jetzt können wir reden“, sagte er. Es waren die ersten Worte, die ich je von einem Spiegelmenschen vernahm. Es klang geschlechtslos. Ich glaubte zunächst an eine Einbildung, also spielte ich den Streich meines Gehirns mit.
    „Worüber wollen wir denn reden?“ fragte ich und lächelte zurück. Der Spiegelmann sollte nicht denken, dass ich ihm böse gesonnen war.
    „Über dich und uns“, antwortete er, „Du heißt Laslo. Stimmt doch, oder? Dein Name hat sich schon herum gesprochen.“
    Ich war verblüfft. Die Spiegelmenschen unterhielten sich über mich. Ich gestattete mir die Frage, wie sie existieren konnten, auch wenn keine Spiegel in der Nähe der menschlichen Körper war.
    „Wir sind immer“, sagte er, „Doch wir treten nur in Erscheinung, wenn uns jemand sieht.“
    So plauderten wir noch eine Weile über seine Probleme, die fast denen glichen, die wir in unserer Welt hatten, nur dass die Spiegelmenschen einen begrenzten Raum zum Betreten hatten, viel kleiner als die Erde und sie sich sozusagen auf die Füße traten, weil sie zu viele waren. Er beantwortete meine neugierigen Fragen mit offener Freundlichkeit und ein Respekt wurde mir entgegen gebracht, den die Menschen in unserer Welt nicht mehr kennen.
    „Es hat mich gefreut“, sagte ich zum Abschied, „Vielleicht sieht man sich mal wieder.“
    Er lächelte.
    „Ganz bestimmt werden wir das, Laslo.“
    Seit diesem Tag also redete ich mit ihnen. Egal, wo ich sie antraf. Und dieser Zustand hält bis heute an. Es entstehen dabei oft sehr philosophische Gespräche über den Sinn des Lebens und die zwei Welten, die uns trennen. Die Spiegelmenschen glauben an ein Leben nach dem Tod und sie hoffen, eines Tages in unserer Welt wiedergeboren zu werden.
    In ihrer Welt gibt es keine Regierungsformen und keine Machthaber. Jeder ist gleichberechtigt und sie verfügen über die einzigartige Gabe ohne Essen und Trinken zu überleben. Weil ihr Wirt, also wir, das für sie erledigt. Dort gibt es nur Frieden, doch das Sehnen nach Abenteuer brachte sie auf neue Gedanken, die sie mir auch mitteilten.
    Seit ein paar Wochen reden wir über kein anderes Thema mehr. Auch jetzt befinde ich mich wieder auf dem Weg zu meiner Arbeitsstelle. Heute habe ich die volle Schicht zu machen. Und ich habe keine Lust.
    „Hilfst du uns?“
    Es ist ein beharrendes Flüstern, dass ich am Rande meiner Betrachtungen wahrnehme. Ich blicke zur Frau mir gegenüber, die bis eben in ein Buch vertieft war. Ich kann nicht feststellen, welchem Geschlecht diese Stimme

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