Schattengeschichten
Steifheit verjagen. Vincent drückt ihre Hand fester.
„Was macht ihr hier?!“ ruft eine ernste Stimme.
Die Kinder stehen noch vor der Schwelle zum Raum. Sie drehen sich zu dem anderen, nur kurz, um dem entstellten Mann keine Überraschung zu ermöglichen.
„Wir...“, stottert Lisa, „Da ist ein Mann!“
Im Kreischen stolpert sie zurück und zieht Vincent mit zur Wand. Der zweite Mann zieht einen Stock aus seinem Gürtel. Er trägt Dienstkleidung. Ein Wachmann. Gerettet.
„Ein Mann?“ fragt er skeptisch, „Wehe, ihr wollt mich...“
Zu nah an der Tür. Die Kinder wollten warnen. Der Leichenfresser packt das Handgelenk des Wachmanns. Klauen winden sich um seine Kehle.
„Lassen... Sie...“
„Das werd´ ich auch mit euch machen!“ sagt er und dreht den Kopf des Wachmanns weit über die Möglichkeiten einer Wirbelsäule. Es knackt und splittert.
Unter dem ohrenbetäubenden Echo ihrer eigenen Schreie laufen sie hinaus, auf die Strasse, zum Ausgang, für immer fort von diesem Ort, nie zurückkehren.
Sie schreien noch, als sie auf eine Hauptstrasse kommen. Immer wieder drehen sie sich um. Ob er ihnen folgt? Ob er weiß, wo sie wohnen?
Irgendwann erreichen sie Vincents Haus. Susanne möchte wissen, wie es war, das Shoppen, Vincent und Lisa schließen sich in sein Zimmer. Susanne klopft, sie sagen, dass sie später in die Küche kommen, zum Essen.
V
Vincent und Lisa werden krank. Jedenfalls übergeben sie sich und Susanne steckt sie ins Bett. Alles deutet darauf hin, dass die beiden Kinder sich eine Grippe einfingen bei ihrem Ausflug in die Stadt. Am Sonntag bleibt Holger zuhause, um sich Filme anzusehen.
Leise, im Hintergrund, das Schreien der Opfer. Blut spritzt. Holgers Tür steht auf.
„Mach das leiser!“ brüllt Susanne aus der Küche. Bald muss sie Lisas Eltern anrufen. Ihr Sohn schließt die Tür.
Vincents Bett ist ein heiliger Ort. Hier lebt Vertrautheit. Zum ersten Mal trauen sich die beiden Kinder über die Erlebnisse zu sprechen. Zuvor, gestern sowie heute, herrschte eisiges Schweigen, bis ihnen Zweifel kamen, ob sie wirklich befreundet waren.
„Uns glaubt sowieso keiner“, flüstert Lisa.
„Ja“, sagt Vincent, „Ist besser, wenn Mama denkt, dass wir krank sind. Ich muss immer wieder an diesen Typen denken.“
„Ich auch“, pflichtet seine Freundin ihm bei. Das Grauen war noch nicht gewichen, bleibt für eine ganze Weile, in der den Kindern die Lust auf Horrorgeschichten abhanden kommt. Der Ekel ist zu groß.
„Was war das bloß für ein Mensch?“
„Das war kein Mensch“, sagt Vincent.
Es gibt keine Monster, denkt Lisa. Das weiß sie doch. Die Wahrheit ist langweilig. Es gibt immer eine vernünftige Erklärung.
Klopfen an der Tür, begleitet von Schreien, aus dem Fernseher und von Susanne.
„Was willst du?“ krächzt Vincent, „Findest du uns lustig?“
Holger betritt das Zimmer und setzt sich auf den Schreibtischstuhl seines Bruders. Er zieht die Augenbrauen nach oben und lächelt spitzbübisch, aber sanft, mitleidig.
„Nein. Ich finde euch nicht lustig“, sagte er, „Aber ihr seid doch nicht wirklich krank.“
„Wie, wie kommst du denn da drauf?“ fragt Lisa, „Siehst du das denn nicht?“
„Ich sehe, dass ihr zutiefst erschrocken seid. Ihr habt Angst und das bringt euch zum Kotzen. Ich habe viel erlebt, müsst ihr wissen. Die dunkle Seite“, Holger macht seltsame Handbewegungen, „Und ich weiß, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als die Wissenschaft uns glauben machen will.“
„Und?“ In Vincents Stimme schwingt Verachtung. Er rechnet mit der typischen, ironischen Pointe seines Bruders. Diesmal bleibt sie aus.
„Ich habe da ein Buch. Vielleicht findet ihr darin Aufschluss über euer Erlebnis und wenn ihr mit mir sprechen wollt, ich bin gleich nebenan.“
„Woher...?“ Lisas Faszination bleibt ungebrochen. Und mit seinen weisen Worten, von denen sie nicht allen Sinn erfasste, steigert sie sich in richtige Schwärmerei.
„Ich weiß eine ganze Menge.“
Holger verschwindet wieder, um kurz darauf mit einem dicken, gebundenen, schwarzen Buch zu erscheinen.
„Vielleicht werdet ihr fündig.“
Die Tür schließt sich. Susanne kommt auf den Flur und schreit Holger an.
„Lexikon der Dämonen“, sagt Vincent und schlägt die erste Seite auf. „Was sollen wir denn da finden? Etwas über den Mann, der, der...“
„Vielleicht.“
Ein Zitat steht auf der ersten Seite: Im Grübeln und bei Nachtgeschichten, wenn tiefer Schlaf die
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