Schattengeschichten
gehörte. Wie immer, wenn sie anfangen zu reden. Der Waggon ist fast leer und in meiner Hörweite befindet sich nur diese Frau. Ihr Blick schweift in die Spiegelwelt und trifft meinen. Sie lächelt, sehr freundlich.
„Hilfst du uns?“ wiederholt sie, diesmal lauter. Und ich bin jetzt sicher, dass sie es sagte.
Ich lächle zurück, traue mich aber nicht, ein Wort zu sagen und meinen Blick in den Waggon zu leiten. Schließlich könnten die Leute denken, ich sei irgendwie irre, wenn ich in ein Fenster spreche.
Mit ihrer rechten, nein, ihrer linken Hand fährt sie sich durch die Haare. Für einen Moment sehe ich ihr Ohr. Ein schwerer Stein hängt daran. Wie alt mag sie sein? Vierzig?
„Hilfst du uns?“ fragt sie wieder, wobei ihr Mund sich nicht öffnet. Das Lächeln verschwindet und im nächsten Moment, der Name der Haltestelle wird durch die Lautsprecher gegeben, taucht sie wieder in die Welt ihres Buches ein. Ende des Dialogs. Ich drehe meinen Kopf und starre sie an. Wieder hebt sie ihren Kopf, doch diesmal lächelt sie nicht.
„Haben sie was gesagt?“ fragt sie, doch ich schaue verlegen wieder weg. Ihr Achselzucken verrät mir, dass ich mich nicht mit einer Antwort auseinander setzen muss.
Doch das „Hilfst du uns?“ begleitet mich auf dem Weg zur Arbeit. Erst während der Mittagspause vergesse ich, was geschah und die Frage verblasst. So oft schon haben sie mir diese Frage gestellt und ich weiß einfach nicht, was sie damit meinen. Okay, ich ahne es, aber das klingt wirklich unglaublich. Noch bleibt es ein Rätsel, das mir die Spiegelmenschen im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte aufgaben.
III
Mein Tagewerk vollbringe ich wie gewöhnlich. In dem Laden, in dem ich als Verkäufer arbeite, gibt es keine Spiegel, nur auf der Toilette hängt ein kleiner Bruder der großen. Wenn ich Kunden bediene, bin ich ein anderer Mensch, einer von denen, die mit Charme und Witz jeden potentiellen Käufer auf seine Seite ziehen kann. Wie ich das schaffe, kann ich nicht beantworten. Ich verstelle mich, spiele eine Rolle, die ich mir im Laufe der Jahre antrainieren musste und die ich fast zur Perfektion beherrsche. Sobald die Tür des Geschäfts ins Schloss fällt, der letzte Kunde verschwunden ist, lebt meine Furcht vor den Anderen, auch meinen Kollegen, wieder auf. Dann will ich nur nach Hause, mich einschließen und im Internet nach Waren suchen, die mir vortäuschen, dass ich ein moderner Mensch bin.
Ich bezeichne mein spiegelloses Leben nicht selten als langweilig und vorhersehbar. Der letzte Sex liegt Jahre zurück. Ich nehme keine Drogen, bin schnell zufrieden mit allem, was ich erlebe oder eben nicht erlebe. Ich gehe niemals weg, es sei denn zu meinen Freunden nach Hause, um dort ein wenig Konversation zu treiben. Meist aber lade ich sie zu mir ein. Mein Job nimmt die Hauptzeit meines Lebens in Anspruch.
So plätschert mein Leben vor sich hin. Ich habe kein Ziel, keine Perspektive. Als ich damals die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann abschloss, wusste ich, dass ich das bis zu meinem Tod machen würde. Auch wenn heutzutage Keiner mehr sicher sein kann, dass er seinen Job auf Dauer behalten wird. Seltsam ist, dass es mir nichts ausmacht. Dann lebe ich halt in der ewigen Einöde derselben Alltagsszenarien, Tag ein, Tag aus. Mir egal.
Abenteuer gibt es für mich dennoch genug, besonders, seit sie anfingen mit mir zu sprechen.
Nach Feierabend schlendere ich durch das Einkaufszentrum und blicke in die Schaufenster. Ich habe zwei Lieblingsläden, vor denen ich meist länger stehen bleibe. Ihre Fenster werden direkt von den Scheinwerfern im langen Flur beschienen und die Farben der Dekorationen beleben das Szenario in einzigartiger Weise. Es unterstreicht die Wahrhaftigkeit ihrer Auren. Der Spielzeugladen, nicht weit von dem Geschäft, in dem ich arbeite, hat eine Modelleisenbahn im Fenster aufgebaut. Der Hintergrund ist ein blauer Himmel.
So wie nach jedem Feierabend bleibe ich davor stehen und betrachte die Menschen, die hinter mir den Weg nach draußen suchen. Ihre gespiegelten Persönlichkeiten schimmern blau und gedoppelt. Und bevor ich weiter gehen kann, bleibt ein älterer Herr stehen und sieht mir direkt in die Augen, in meine gespiegelten Augen.
„Hallo“, sagt er und versucht zu lächeln, aber irgendwie zeichnet sein Gesicht Qualen nach, als ob er in Gefangenschaft und Folter lebt.
Ich flüstere ganz leise eine Begrüßung. Muss ja niemand mitkriegen. Mir sind schon viele Menschen in der Stadt
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