Schattengeschichten
begegnet, die in eine Anstalt gehören und trotzdem noch frei herum laufen. Und meine Befürchtung ist stets, dass die Anderen mich zu denen zählen.
„Hilfst du uns?“ fragt er.
Diesmal antworte ich mit einem „Wobei?“, wie so oft, wenn die Spiegelmenschen mir diese Frage stellen. Und bisher erhielt ich nie eine Antwort.
„Wir wollen frei sein“, sagt er. Ich erschrecke so sehr, dass meine Tasche von der Schulter rutscht.
„Was?“ flüstere ich ungläubig.
Betrachtet man all jene Erfindungen, die die Menschen im Laufe der Jahrhunderte entwickelten, so entstanden sie immer aus den Ahnungen, dass etwas funktionieren würde. Für mich bedeutet eine Ahnung gleich Gewissheit, auch wenn sie später oder verzerrt eintritt. Und nun habe ich den Beweis. Die Spiegelmenschen wollen raus.
„Wir wollen frei sein“, wiederholt er und sein Wirt geht weiter. Doch die anderen Passanten hinter mir bleiben stehen. Alle, fünf an der Zahl, wiederholen den Satz, den der ältere Mann sprach.
„Wir wollen frei sein, Laslo.“
Ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Jetzt komme ich mir lächerlich vor und will eigentlich kein weiteres Wort von mir geben. Ein kleines Mädchen löst sich von der Hand seiner Mutter und tritt einen Schritt vor. In ihren Augen schimmern Tränen.
„Es ist so weit“, sagt sie mit dieser androgynen Stimme, „wir haben lange gewartet. Und wir beobachten dich schon eine Weile. Du bist der Richtige, Laslo. Also, hilfst du uns?“
Jeden Gedanken, den ich versuche zu fassen, verzieht sich in die hinteren Winkel meines Gehirns. Wie ein Idiot stammele ich ein paar Sätze.
„Wobei? Ihr wollt frei sein? Von was soll ich euch befreien? Aus eurer Spiegelwelt? Aber das geht doch nicht.“
Es bleiben noch mehr Menschen stehen und ich frage mich, ob sie einen Irren vor sich sehen, der mit dem Schaufenster spricht. Gleich verschwinde ich in einer Schublade, die sie extra für mich öffnen.
Sie alle, Frauen und Männer und Kinder, starren mich an. Mit demselben Gesichtsausdruck.
Wie aus einem Mund bekomme ich die Antwort:
„Wir wollen in deine Welt, Laslo. Wir wollen frei sein.“
Ich lache verzweifelt. Ja, klar, denke ich mir, kommt mal in meine Welt. Springt doch einfach heraus. Ich glaube tatsächlich verrückt zu sein. Und mir drängt sich die Frage auf, ob ich jemals wirklich mit ihnen sprach. Ich sollte eine Therapie machen, damit ich den Menschen wieder ins Gesicht blicken kann. Bisher fühlte ich mich in der Einsamkeit sicher. Doch nun glaube ich die Stufen zum Wahnsinn fast erklommen zu haben. Wie lange wird es noch dauern, bis ich vor Wut jeden Spiegel zerschlage, um nie mehr diese Frage zu hören?
„Hilfst du uns?“ fragen sie noch einmal. Es klingt wie ein Appell, der ausgeführt werden muss. Wie eine Klage, die lauter wird mit jeder Sekunde, die ich zögere.
Schnell wende ich mich von dem Schaufenster ab und gehe weiter. Die Passanten, die stehen blieben, gehen ebenfalls. So, als ob sie nie stehen geblieben wären. Ausdruckslos sind ihre Gesichter. Ich gehe an meinem anderen Lieblingsschaufenster vorbei ohne auch nur einen Blick zu riskieren. Für heute habe ich genug. Was nicht oft vorkommt. Aber ich erinnere mich ein ums andere Mal von ihnen belästigt worden zu sein. Was auch daran liegen mag, dass ihre Wirte minderwertig waren. Beleidigungen dieser Art vermeide ich natürlich auszusprechen. Aber wahr sind sie trotzdem.
IV
Als ich die Tür des Einkaufzentrums aufstoße, fühle ich mich frei. Auf dem Weg nach Hause vergesse ich den Vorfall. Wieder ein Hirngespinst, denke ich mir und belasse es dabei.
Das sind die Abenteuer, von denen ich sprach. Es ist nicht so, dass jeder Spiegelmensch freundlich ist oder mich mag. Unter ihnen gibt es Individuen, die mich am liebsten tot sähen. Weil ich sie sehe und frei bin. Es ist der Neid, der hier wie dort die Seelen der Individuen aufzufressen vermag.
Mein Abend verläuft wie gewöhnlich. Ich komme nach Hause, gehe zunächst duschen, um dann in Unterwäsche vor dem Computer nach ein paar CDs zu suchen, die ich noch nicht habe. Dann schalte ich den Fernseher ein und schaue so lange, bis ich auf meinem Sessel einschlafe. Spät in der Nacht erwache ich mit Rückenschmerzen, raffe mich auf, stelle die Flimmerkiste ab und schleife mich in mein Bett. In meinen Träumen wandere ich über Wiesen, die mit Blumen bewachsen sind, deren Blüten Gesichter darstellen. Ich pflücke welche unter Schreien und Morddrohungen, bis ich erwache und meine
Weitere Kostenlose Bücher