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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hauke Rouven
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Schuldgefühle mir weismachen wollen, dass ich von diesen Blumen keine hätte pflücken sollen.
    Ich blicke auf die Uhr. Es ist sechs vorbei, also drehe ich mich noch einmal um und versuche erneut abzutauchen. Es will mir nicht gelingen. Ich wälze mich herum, sehe mich verfolgt von den Nachtmähren der Vergangenheit. Ich denke oft an die Zeit zurück, als alles begann.
    Als ich schließlich aufstehe, dröhnt mein Kopf, wie jeden Morgen. Heute habe ich frei, also ziehe ich unkorrekte Kleidung an und gehe einkaufen. In allen Vitrinen, zwischen Obst und Gemüse, und den Spiegeltüren des Supermarkts begegnen mir die Spiegelmenschen mit Grüßen zum Morgen. Darunter ein zweifaches „Verpiss dich“. Du dich auch, denke ich. Ein fetter Kerl mit Glatze.
    Und wieder erreicht mich diese Frage, die in letzter Zeit häufiger gestellt wurde. Sie lassen mich nicht in Ruhe Dosensuppen und Mikrowellenfraß aussuchen. An diesem Morgen ist die Spiegelwelt lästig.
    Irgendwann reicht es mir und ich schreie: „Und wie, verdammt noch mal, soll das gehen?!“
    Argwöhnische Blicke werden mir zugeworfen. „Beruhigen sie sich doch“, sagt eine Verkäuferin. Eine Antwort erhalte ich nicht. Typisch.
    Mit zwei schweren Taschen beladen gehe ich schließlich nach Hause, fülle die Lebensmittel in meinen Kühlschrank und entkleide mich. Im Badezimmer hängt ein großer Spiegel. Ich starre mir grimmig in die Augen. Mein Gesicht wirkt faltig und grau, obwohl ich erst Anfang dreißig bin. Ich sah schon immer älter aus. Ich will mich gerade abwenden und Wasser in die Wanne lassen, da lächelt mein Spiegelbild. Doch ich verziehe keine Miene.
    „Hilfst du uns?“ frage ich.
    Das ist mir zu viel. Wie verrückt bin ich denn schon, wenn ich mit mir selber rede? Obwohl ich das natürlich nicht tue. Mein Spiegelbild agiert unabhängig von mir. Lästig, ja, und irgendwie unheimlich ist das Ganze. Aber entfliehen kann ich dem nicht. Wenn ich nicht damit begonnen hätte, den Spiegelmenschen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als ihren lebenden Wirten, dann käme ich ohne Unterbrechung in den Genuss eines warmen Bades. Doch ich weiß, es ist zu spät. Ich kann mich nicht mehr vor dieser Welt verstecken. Also spiele ich das Spiel mit.
    „Ihr wollt also frei sein?“ frage ich zurück.
    Mein Spiegelbild nickt.
    „Und wie soll das funktionieren? Ich meine, was kann ich tun? Soll ich den Spiegel einschlagen und dich dahinter heraus ziehen?“
    Ich lächle noch immer.
    „Nein“, sage ich, „Es ist viel einfacher.“
    Ich griene und schüttele den Kopf.
    „Na schön. Einfacher. Erklär´s mir, Spiegel-Laslo.“
    Ich frage mich, woher ich noch meinen Humor nehme, aber ist die Tatsache nicht schon ernst genug?
    „Wenn die Zeit kommt.“
    Ich schüttele meinen Kopf umso heftiger.
    „Warum spreche ich jetzt mit mir selber? Werde ich jetzt wahnsinnig?“
    Mein Spiegel-Ich streckt eine Hand aus und fast glaube ich, dass sie nach mir greift. Ich weiche einen Schritt zurück.
    „Du möchtest Antworten“, antworte ich, „Das kann ich gut verstehen. Dafür bin ich ja da. Habe keine Angst. Du bist nicht wahnsinnig. Ich bin genauso real wie meine Brüder und Schwestern, denen du seit Jahren deine Aufmerksamkeit schenkst. Darum haben wir dich auch ausgewählt. Du achtest uns. Du weißt, dass wir existieren. Wir mussten nur noch einen Weg finden uns dir mitzuteilen. Was nicht einfach war. Gar nicht so einfach. Schließlich werden wir nur als Spiegelbilder gesehen. Aber wir sind mehr. Wie du weißt, haben wir unser eigenes Leben und die Welt, in der wir leben, hat enge Grenzen. Darum wollen wir raus. Und du, Laslo, sollst uns dabei helfen. Du weißt nicht, wie, okay, aber bald wirst du es merken. Nur rege dich nicht auf.“
    Ich glaube, das war der längste Monolog, den mir je ein Spiegelmensch gehalten hat.
    „Und was soll ich solange tun?“
    „Warten, Laslo. Du kannst nur warten, bis ich dir ein Zeichen gebe.“
    „Warum du?“ frage ich.
    „Wir haben lange überlegt, wer dich leiten soll. Eine hübsche Frau, deine Freunde. Dann entschieden wir uns für dich selbst, also mich. Wir schickten mich, um dir Antworten zu geben. Wir dachten, wenn du jemanden zuhörst und vertraust, dann deinem eigenen Spiegelbild.“
    Mein Mund lasse ich hängen wie ein Stück verfaultes Fleisch.
    „Danke“, sage ich verwirrt, „für diese Aufklärung. Dass ich mir dabei wahnsinnig vorkomme, ist euch wohl vollkommen egal, was?“
    „Ja, denn du bist nicht wahnsinnig. Und das

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