Schattengeschichten
Glanz schwamm darin. „Wir müssen los. Die warten schon. Hast du deinen Geburtstag vergessen?“ Ohne ein Wort zu erwidern, erhob Hendrik sich langsam. Seine Bewegungen waren fließend, aber es lag eine Energie in ihnen, die Antonia unbekannt war. „Na, dann los“, sagte er. „Wieso hast du nicht geantwortet? Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Doch er antwortete nicht, trocknete sich ab, verließ das Badezimmer, streichelte Felix über den Kopf und verschwand im Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Der Abend verlief seltsam gewöhnlich. Seltsam, dachte Antonia, weil die Situation vor der Badezimmertür vergessen schien. Und irgendwann, vier Gläser Sekt später, glaubte sie, er sei in der Wanne lediglich eingeschlafen. Das war die einzige Antwort, die sie sich geben konnte. Felix schlief früh ein und sie trugen ihn ins Auto. Auf dem Rückweg zur Villa, in dem die Feier diesmal stattfand, nahm Hendrik ihre Hand. „Lass uns noch einen Moment draußen bleiben.“ Sie hob überrascht eine Augenbraue. „Willst du hier...?“ „Nein, das nicht“, sagte er, „ich möchte dir was erzählen.“ „Eine Geschichte?“ Er zog sie hinter das Haus, weg vom Garten, weg von den Feiernden. Am Rand des Zauns befand sich eine Bank. Er sagte: „Setz´ dich“, und sie folgte seiner Anweisung mit einem Unbehagen. „Erinnerst du dich noch, dass ich mal Pilot werden wollte?“ fragte er in eine Stille, die entstanden war. Antonia erschrak. „Ja“, antwortete sie kurz. „Mir ist da vorhin etwas passiert“, fuhr er fort. „Im Badezimmer?“ „Ja.“ Antonias Sorgen kehrten zurück, jene Sorgen, die sie sich vorhin gemacht hatte. In einem unwirklichen Augenblick hatte sie sogar befürchtet, Hendrik habe Selbstmord begangen. Er hielt das Leben nicht mehr aus, er wollte doch schon immer Pilot werden und nur ihr zuliebe hatte er diesen Traum aufgegeben. Das spürte sie jedes Jahr, wenn Hendrik Geburtstag hatte. Denn dann fiel es ihm wieder ein. Und jetzt würde er davon sprechen, hatte nur auf diesen Augenblick gewartet.
Er sagte:
„Ich möchte nicht, dass du mich unterbrichst, während ich dir erzähle, was ich dir jetzt erzählen muss. Du darfst zum Schluss Fragen stellen, aber bitte, höre mir erst einmal zu, bevor du ein Urteil fällst oder sonst was. Ja, da ist etwas im Badezimmer passiert. Und ja, ich bin eingeschlafen, aber das war nicht alles.
Als ich heute Morgen aufwachte, spürte ich eine Veränderung. Ich kann dir nicht sagen, was es war und ich glaube nicht, dass es irgendwas mit meinem Geburtstag zu tun hatte. Es fühlte sich einfach anders an, der Tag, das Leben, mein Körper. Ich fragte mich die ganze Zeit, was das genau sein könnte, was ich spürte. Bis ich am Nachmittag ins Badezimmer ging, hatte ich keine Antwort. Ich wollte nur duschen, aber eine innere Stimme, von der ich nicht sagen kann, dass es meine eigene war, befahl mir, mich in die Wanne zu legen. Ein schönes, heißes Schaumbad. Es schien verlockend. Und während du und Felix auf mich warteten; ich glaube, ich vernahm die Geräusche hinter der Tür; schlief ich ein, in der Wanne, bis mein Kopf ins Wasser tauchte. Und ich begann zu träumen. So kam es mir vor.
Ich sah mich selbst, wie ich mit dem Kopf im Wasser verschwand, wie einzelne Bläschen an der Oberfläche meinen Atem nachzeichneten. Ich träumte oder wusste, dass ich in diesem Augenblick starb. Aber es machte mir nichts. Ich fühlte mich, im Gegenteil, frei. Und da hörte ich wieder diese innere Stimme.
„Folge mir“, sagte sie. Ich fragte: „Wohin?“, aber da war es schon geschehen. Dein Klopfen an der Tür wurde leiser, mein Traumkörper wurde gezogen, von einer fremden Macht. Ich spürte, wie ich mich auflöste. Und als schließlich mein Kopf verschwand, erblickte ich eine andere Welt. Ich war transportiert worden oder wie man das nennt.
Wie soll ich das bloß erzählen, damit du das nachempfinden kannst? Ich glaube, das geht gar nicht. Es war wie ein Kitzeln und als mein Kopf ergriffen wurde, spürte ich die Energie, die zweifellos zu der inneren Stimme gehörte.
„Endlich“, hörte ich sie sagen, als ich das Feld erblickte, auf dem ich nun stand. Vor mir, hinter mir, überall ragten Steine aus der Erde empor, bis weit zum Horizont. Ich befand mich auf dem größten Friedhof, den ich je gesehen habe. Und dieses einheitliche Bild wurde nur durchbrochen von einem Fluss, der sich rechts von mir befand. Seine Ufer waren so weit voneinander entfernt, dass ich das Ende des Wassers
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