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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hauke Rouven
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nie wieder hingehen werde.“
    „Okay“, krächzte ich, „okay. Wenn du das meinst. Dann werde ich da auch nicht mehr hingehen.“
    „Versprich es mir“, sagte er.
    Und ich versprach es ihm. Dann schwor er mir ein erneutes Mal seine Liebe, wünschte mir eine gute Besserung und wir legten auf. Am nächsten Tag war er verschwunden.
    Obwohl ich noch krank war und mit Fieber im Bett hätte bleiben müssen, beteiligte ich mich an einer Suche. Meine Mutter schimpfte zwar ob meiner Unvernunft, doch ich war geblendet von Sorgen, was Benjamin passiert sein konnt. Mein Versprechen brechend, fand ich ihn schließlich in unserem Haus des Grauens, im oberen Stockwerk.
    Am Seil erhängt. Sein Gesicht eine Maske der Ruhe, die Augen geschlossen, die Lippen zum Ansatz eines Lächelns verzogen. Für die Leute im Ort war der Fall klar. Klarer Selbstmord. Doch ich weiß, dass... Nein, wissen kann ich es nicht. Aber ich glaube an die Kreatur. Und dass sie Benjamin seinen letzten Wunsch erfüllte.

Der Pilot

    Schon als Kind kannte er das Ziel seines Lebens. Hendrik wusste, eines Tages würde er Pilot werden und dafür trainierte er jeden Tag, wie es für ein Kind üblich war. Auf den Wippen und Schaukeln der Spielplätze, höher hinaus, als je zuvor ein Mensch, auf dem Balkon bei seinem Vater; seine Eltern hatten sich schon vor seiner Geburt getrennt; überall dort, wo sein Körper im Widerspruch zur Schwerkraft über dem Boden verharrte. Hendrik wollte frei sein, und das würde er nur erreichen, wenn er als Pilot täglich und himmelhoch die Welt verließ. Er lebte in seiner eigenen Welt, die ihm keiner nehmen konnte. Als er jedoch in die zehnte Klasse kam, lernte er Antonia kennen, ein Mädchen mit blauen Augen und Haaren, so golden wie der erste Sonnenstrahl in der Dämmerung. Ihr Busen war größer als der vieler anderer Mädchen in ihrem Alter. Ihr Lachen klang verführerisch und dabei entblößte sie eine niedliche Zahnlücke. Sie trug sehr weibliche Kleidung, die ihren Körper betonte. Und das waren nur einige der Gründe, warum Hendrik ihr verfiel. Seine Freiheit tauschte er gegen die Liebe ein. „Wer will heute noch Pilot werden?“ fragte sie oft und da entschied er sich, an einem schicksalhaften Abend im Mai, etwas anderes zu versuchen, obwohl er sich schon an der Pilotenakademie beworben hatte. Antonias Vater führte eine Werbeagentur. Sie würde selbst dort arbeiten, sobald ihre Ausbildung fertig war und Hendrik besuchte eine Berufsschule für Werbekaufleute. Die Agentur „Eyeswatch“, früher „Tausendaugen“, war ein Familienunternehmen, der Großvater hatte es gegründet, und es sollte in der Familie bleiben. Als Hendrik zwanzig war, bekam er dort eine Anstellung, Antonia wurde im gleichen Jahr schwanger und nicht viel später heirateten sie. Hendrik vergaß, dass er fliegen wollte oder er wusste es noch, aber es kam ihm wie ein Hirngespinst vor, das nie real gewesen war. Sein Drang nach Freiheit war beschnitten worden. Über der Erde würde er nur noch sein, wenn er Urlaub hatte und in ein fernes Land reiste oder Geschäfte für seine Firma zu tätigen hatte. Und Hendrik würde noch heute in seinem nicht ganz frei gewählten Leben stecken, wenn sich die folgenden Geschehnisse, von denen nun zu berichten sein wird, nicht zugetragen hätten. Hendrik wurde vierundzwanzig. Es war ein schöner Sommertag, Krebs war sein Sternzeichen. Wie schon die Jahre davor, bekam er eine Feier geschenkt, die er an einem Ort seiner Wahl veranstalten durfte. Antonias Vater war ein großzügiger Mensch. Antonia und Felix, ihr gemeinsamer Sohn, warteten in der Vier-Zimmer-Wohnung, dass Hendrik aus dem Badezimmer trat. Er hatte noch duschen wollen. Doch auch als Antonia immer lauter klopfte und ihre Stimme einen Hauch von Aggressivität annahm, antwortete er nicht. „Was macht Papa denn da?“ fragte Felix. „Wahrscheinlich ist er eingeschlafen.“ Wieder hämmerte sie gegen die Tür. Es dauerte noch eine Stunde, bis sie beschloss, die Tür einzutreten. Ihr zierlicher Körper brauchte eine Weile, die nötige Kraft aufzuwenden, die so ein Tritt erforderte, doch irgendwann gelang es ihr. Hendrik lag in der Badewanne. Wasser war eingelassen und sein ganzer Körper ruhte, vor Entspannung oder... für einen Augenblick dachte Antonia, eine Bewegung auf seiner Haut, oder darunter, zu erblicken. Sie bekam Angst. „Was ist denn los mit dir?“ fragte sie zärtlich und setzte sich auf den Badewannenrand. Seine Augen öffneten sich, ein fremder

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