Schattengeschichten
nicht absehen konnte, aber auf der anderen Seite funkelten Lichter wie Sterne und ich glaubte, riesige Wolkenkratzer darin zu erkennen.
Auf dem Friedhof fühlte ich mich wohl und da du mich kennst, ist das schon ungewöhnlich genug, schließlich mag ich Friedhöfe nicht. Ich habe immer Angst, dass mich die Toten anstarren, wenn ich an deren letzten Ruhestätte vorbei gehe. Aber hier war das anders. Obwohl die Blicke der Toten mich verfolgten und jede einzelne Seele in meinen Traumkörper drang, machte es mir nichts aus. Im Gegenteil, ich genoss ihre Gegenwart. Und weißt du, wieso? Weil ich spürte, was sie fühlten: Ehrfurcht. Die Toten hatten Angst vor mir, Antonia. Auch hier weiß ich nicht, wie ich das erzählen soll, so dass du mir das nachempfinden kannst, aber ich spürte alles dort, jeden Grashalm, jeden Stein, jede Seele, das Wasser, und sog die Energie in mich auf. Ich labte mich an den Ehrerbietungen der Toten. Sie schienen eine Art Lieder zu singen, für meine arme Seele, die in der Badewanne eingeschlafen war. Dieser Friedhof ist der beste Platz, an dem ich je war. So leid es mir tut. Noch nie fühlte ich mich so wohl und geborgen. Auch wenn du sagst, dass es ein Traum gewesen sein soll. Was dann geschah, war genauso real wie wir beide hier auf der Bank sitzen.
Ich hörte wieder diese Stimme.
„Wie gefällt es dir?“ fragte sie.
Doch ich wusste, dass ich keine Antwort zu geben brauchte. Die Stimme kannte meine Gefühle. Und so fuhr sie fort:
„Es ist schon lange her, dass ich jemanden wie dich brauchte. Mehrere Jahrhunderte, wahrscheinlich. Ich glaube, es war zur Zeit der Pest in Europa. Möchtest du wissen, warum ich dich geholt habe? Natürlich möchtest du das. Ich will dir einen Wunsch erfüllen, den du schon dein Leben lang hegst. Und damit erfülle ich mir auch einen. Ich brauche einen Gehilfen. Wenn du so willst, kriegst du bei mir eine Anstellung. Die Arbeitszeiten sind streng geregelt, aber deine Freizeit kannst du dir gestalten, wie du willst. Ist das nicht faires Angebot? Du brauchst gar nicht darüber nachzudenken. Du wirst es sowieso annehmen müssen. Denn du bist tot.““
Es entstand eine Pause, in der sich Hendrik eine Zigarette anzündete und den Rauch genussvoll in die Luft blies. Für ihn schien das Wort „tot“ magisch.
Aber du sitzt doch neben mir, Hendrik, du bist nicht tot. Was hattest du bloß für einen Traum? Und das an deinem Geburtstag. Lass uns wieder reingehen und feiern. Dann wirst du es schon vergessen. All das wollte Antonia sagen, doch der Bericht war noch nicht an seinem Ende. Sie öffnete ihren Mund, der erste Laut war schon gesprochen, als er unbeirrt fort fuhr.
„Natürlich wollte ich sehen, wer mit mir sprach, also fragte ich ihn danach. Die Stimme lachte.
„Du wirst mich noch früh genug sehen. Es reicht, wenn du zunächst weißt, was du zu tun hast. Und hier ist deine erste Aufgabe: Siehst du den dunklen Schatten, der sich über die Grabsteine erhebt? Dort hinten, beim Hügel, auf dem keine Grabsteine stehen. Geh dorthin.“
Ich folgte dem Befehl ohne Widerwillen oder Fragen. Und ich wunderte mich, denn der Hügel war mir vorher nicht aufgefallen. Als ich ihn schließlich erreichte, erkannte ich meine Pflichten. Der Hügel war lang und breit. Eine ebene Fläche, asphaltiert. Und auf ihr stand das prächtigste Flugzeug, das ich je gesehen habe. Es blitzte und funkelte und ich lachte bei dem Gedanken zu fliegen. Gezwungen zu werden zu fliegen. Was glaubst du, was ich tat, Antonia? Ich lief zu dem Flieger. Seine weiße Farbe glänzte im matten Licht, das den gesamten Friedhof beschien. Ich streichelte es mit meinen Fingern, berührte seine Turbinen.
„Ja“, sagte die Stimme, „der Fortschritt macht auch bei mir nicht mehr Halt. Warum sollte ich das Wasser mit einer Galeere überqueren, wenn ich mit dem Flugzeug Zeit spare? Auch wenn es Zeit in diesem Sinne hier nicht mehr gibt, sie läuft da drüben trotzdem weiter. Und jetzt, Hendrik, setze dich in das Cockpit und starte das Gefährt. Wir haben noch viel zu tun.“
Und diesen Befehl befolgte ich zu gerne. Ich stieg in das Flugzeug, es hatte eine riesige Ladefläche, die vollkommen leer war. Ich glaube, sie war fast so groß wie ein Fußballfeld und am hinteren Ende befanden sich Ladeklappen, als ob wir Fahrzeuge transportieren würden. Ich ging zur Cockpittür und öffnete sie. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich emfpand, als ich den kleinen Raum betrat. Ich wusste, jetzt befinde ich
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