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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hauke Rouven
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Geduld abhanden kam, hob ich den rechten Arm, ging zwei Schritte zurück und winkte zum Spion.
    „Hallo!“ rief ich, „Hallo, Armin. Siehst du mich? Was soll der Scheiß? Lass mich rein!“
    Eine Hand drückte die Klinke von innen hinunter. Es klickte, die Tür öffnete sich einen Spalt.
    „Komm rein“, flüsterte er aus dem Verborgenen. Aus der Wohnung drangen Schatten nach außen und fraßen das Hellblau der Fußmatte. Armins Verhalten war schon immer seltsam gewesen. Er ging selten aus dem Haus und wenn, hielt er sich an sein abgestecktes Gebiet von vielleicht fünfhundert Metern Durchmesser mit seiner Wohnung als Mittelpunkt. Er war eine Zeitlang stationär behandelt worden, sprich Psychiatrie-Aufenthalt, und hatte in den letzten Jahren seiner Krankheit mehr als ein Dutzend Allergien entwickelt. An jenem Tag aber schien er mir endgültig vereinsamt und fern von dieser Welt.
    Der erste Blick, den ich auf ihn erhaschte, bestätigte und übertraf meine Befürchtungen. Armins Gesicht schien eingefallen, Falten und Narben zierten eine aschfahle Haut. Sein Rücken war gebeugt, die Beine steckten in Shorts, waren spindeldürr und weiß wie Kreide. Er lächelte zaghaft, als er mich sah, seine blauen Augen ohne Glanz.
    „Warum bist du hier?“ fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf, schloss die Tür und sagte: „Weil du mich sehen wolltest. Und weil ich mit dir sprechen muss.“
    Er schlich gebückt in sein einziges Zimmer zurück. Die Vorhänge waren zugezogen. Überall Dunkelheit. Wo ich auch hinsah. Von den Möbeln konnte ich nur die schwächsten Konturen ausmachen. Und kein Strahlen einer Farbe hier. Dies war der Ort eines Toten, an dem es so heiß war wie in der Hölle. Armin hatte seine Heizungen auf höchster Stufe.
    Er setzte sich auf sein Bett und betrachtete mich im Türrahmen. „Ich weiß, was du sagen willst. Du willst mich nicht mehr sehen und ich soll dich endlich in Ruhe lassen. Darum habe ich dir die Postkarte geschrieben. Wie ich sehe, hast du sie in der Hand. Sie ist mein Leb' wohl, Holger.“
    „Na, dann“, sagte ich, „wäre ja alles geklärt.“ Armin begann zu weinen. Ich dachte: Nein, du nimmst ihn nicht in den Arm, da wird dich der Vampir am Halse packen und saugen, saugen, saugen.
    „Hey“, sagte ich, setzte mich neben ihn und...
    ...legte meinen linken Arm um ihn, denselben Arm, der vorhin auf Anjas Schultern geruht hatte.
    „Das Leben ist unfair“, begann ich eine meiner vielen intuitiven Reden, „ich weiß das nur zu gut. Aber in meinem Leben ist kein Platz für einen weiteren Problemfall. Es tut mir leid, Mann. Meine besten Freunde sind zugemüllt mit Scheiße. Da muss ich helfen. Und meine Kraft ist nicht unerschöpflich. Den größten Teil brauche ich für mich, verstehst du?“ Er weinte heftiger. „Ich bin kein Samariter und überhaupt, was mache ich hier? Ich wollte mich nur überzeugen, dass du noch lebst.“
    Plötzlich sprang Armin auf, fuchtelte wild mit den Armen, wischte sich einige Tränen weg und schrie: „Nur damit du keine Schuldgefühle zu haben brauchst, was?! Du Arschloch!“ Dann rannte er aus dem Zimmer, wie eine Frau, die ich beleidigte, weil ich die Wahrheit über ihren Arsch gesagt hatte. Perplex blieb ich eine Minute sitzen, bis ich hörte, wie er die Vorhänge in seiner Küche zurück zog und ein Fenster öffnete.
    „Armin?!“ rief ich, als ich mich erhob und ihm folgte. Dieser Verrückte hatte sich doch tatsächlich, verdammt, auf seine Fensterbank gestellt und war im Begriff hinunter zu springen. Die Tiefe selbst würde seinem schmächtigen Körper wohl wenig zu schaffen machen. Zweiter Stock, überlebt mit einigen Blessuren, hört man doch oft. Aber dieses Haus war von außen zugewachsen mit den vielfältigsten Pflanzen und Bäumen, deren Äste und Verzweigungen einen fallenden Körper sehr wohl durchbohren konnten. Im Dämmerlicht der Wintersonne schimmerte sein Körper noch ungesunder als im Schatten. Armin war eine Leiche. Und als ob er meine Feststellung bestätigen wollte, sprang er, bevor ich etwas sagen konnte. Ich rannte zum Fenster, doch es war zu spät. Meine Theorie traf zu.
    Armins Körper steckte jetzt auf zwei Eschenzweigen, die im Begriff waren, in den nächsten Jahren empor zu wachsen. Wie eine Leiche verlor er kein Blut. Ich starrte auf seinen Rücken, auf den Hinterkopf. Keine Bewegungen. Als Reaktion viel zu spät, griff ich nach dem Telefonhörer und rief einen Krankenwagen und die Polizei. Zum Glück schenkten die Beamten

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