Schattengeschichten
wenn du Lust hast. Grüße, Armin.
So einfach es klang, er lebte noch und schluckte keine Überdosis Tabletten, wie er es in seiner letzten SMS angedroht hatte. Mir war es gleichgültig gewesen, ob er starb oder nicht, und vielleicht war das der Grund, warum er sich nun erneut meldete.
Armins Postkarte erreichte mich Anfang Januar. Eine Zeit, in der ich mich regelmäßig mit Anja traf, einer intelligenten und durchaus vereinnahmenden Frau. Sie hatte wundervolle Locken, müssen Sie wissen, mit blonden Strähnchen, die im richtigen Licht sogar natürlich wirkten. An jenem Tag, als es begann, saßen wir zum wiederholten Male auf meiner Couch und verfolgten irgendeine Gerichtsshow, während meine Hand auf ihrem Oberschenkel ruhte. Sie drückte eine Zigarette in den vollen Aschenbecher und ich presste meine Lippen auf ihre. Meine Hand rutschte höher.
Ein lautes, dunkles Surren geisterte durch meine Wohnung und deutete mir, dass jemand unten vor der Haustür stand und Einlass verlangte. Der Postbote klingelte, wie jeden Tag, weil unsere Briefkästen im Treppenhaus waren. Ich löste mich von Anja, was mir schwer fiel, presste den Türöffner und stürzte hinunter um ihn persönlich zu empfangen. Ich erwartete eine Büchersendung und hoffte, dass er sie endlich dabei hatte. ,The stars at noon’ fehlte noch in meiner Denis Johnson-Sammlung und ich hatte es vor zwei Wochen über eBay bestellt. Doch anstatt meines Buches überreichte der Postbote mir lediglich Armins Postkarte.
„Er lebt noch“, teilte ich Anja mit, als ich wieder in der Wohnung war.
„Wer?“, fragte sie.
„Ach, irgendsoein Kerl, der sich mal umbringen wollte.“
„Umbringen?“ fragte sie und wollte sich von meiner Couch erheben. Mein Körper drückte ihren zurück, unser Liebesspiel begann von Neuem. Nach dem Sex fläzte ich mich auf meinen Sessel, zündete eine Zigarette an und las die Postkarte zum wiederholten Male.
„Von wem ist die Postkarte überhaupt?“ Ihr bloßer Körper schwebte durch das Wohnzimmer, auf der Suche nach den einzelnen Teilen ihrer Kleidung.
„Armin“, antwortete ich.
„Und der wollte sich umbringen?“
„Ja. Wollte.“
„Und was will er jetzt?“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Du, ich muss los.“ Ihre Augen glänzten matt. Sie fühlte sich durchgebumst, teilte sie mir mit, küsste mich und ging. Die Wohnungstür fiel ins Schloss und zurück blieben ein nackter Mann, eine brennende Zigarette, eine Postkarte. Ich überlegte eine ganze Weile, ob ich Armin anrufen sollte, ob ich ihn besuchen sollte. Es war noch früh, vielleicht später Nachmittag, also duschte ich, zog mich an und ließ meine Arbeit auf dem Computer ruhen.
Es war der dritte Tag, an dem es schneite. Hamburg präsentierte sich in einem strahlenden Weiß. Straßen, Dächer, Wagen waren bedeckt mit Schnee und Matsch. Überall schimmerten gefrorene Wasserpixel wie Diamanten. Die Sonne wurde von hellen Wolken verborgen. Es roch nass, aber trotzdem nach Abgase. Jeder Schritt hinterließ ein Knirschen in meinen Ohren. Ein herrlicher Tag und bald würde es wieder dunkel. Ich zitterte, als ich hinaus trat. Mein Atem kroch sichtbar aus meinem Mund und zerstob in der Luft. Jeder Schritt wirkte so leicht wie Armstrongs Spaziergang auf dem Mond. Unbekümmert dann klingelte ich bei Armin, er wohnte nur ein paar Straßen weiter.
„Ja“, vernahm ich seine dünne Stimme durch den Lautsprecher. Das unstete Timbre darin, das seine psychische Krankheit spiegelte, war nicht gewichen.
„Hier ist Holger“, sagte ich mutig. Und ließ meine Stimme umso härter klingen. Ich freute mich, ihm ein letztes Mal zu sagen, dass er sich aus meinem Leben verpissen sollte.
Armin antwortete nicht, stattdessen öffnete er mir die Haustür. Ich betrat das Treppenhaus. Er wohnte im zweiten Stock. Ich ließ mir Zeit, seine Tür zu erreichen und als ich vor ihr stand, öffnete keiner. Ich klopfte. Und wie mir auffiel, hatte ich die Postkarte immer noch in meiner linken Hand. Auch nach einem dritten Klopfen öffnete mir niemand die Tür. Ich rief: „Armin?! Bist du da?“ Und, nachdem mir bewusst geworden war, wie absurd die Frage war, fuhr ich fort: „Ich weiß, dass du da bist, Armin. Du hast mir diese Postkarte geschickt. Und jetzt bin ich hier. Du öffnest mir unten die Haustür, du vermisst angeblich...“
Ich vernahm Geräusche hinter dem Holz und ahnte im nächsten Augenblick, dass ich durch den Spion beobachtet wurde. Ich lächelte, unverschämt. Als mir dann die
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