Schattengeschichten
Zeug hinunter. Es widerte ihn an ein Hexer zu sein.
Wieder im Wohnzimmer, war er überrascht. Arianes Leichnam lag nicht mehr auf der Couch. Nur das Blut, das der Stoffbezug in sich gesogen hatte, wies auf die Anwesenheit eines verstümmelten Leichnams hin. Unruhig berührte er die Stelle, roch am Blut, hoffte, einen Hinweis darin zu finden.
„Lass es“, sprach eine Stimme hinter ihm. Sie röchelte und sabberte. Es tropfte auf den Boden.
Blitzartig drehte sich Xavier, um dem auferstandenen Leichnam in die Augen zu blicken. Doch sein Schmerz traf ihn tief. Natürlich war es nicht möglich, die Toten zu beleben. Das war auch gar nicht geschehen. Über Arianes totes Gesicht hatte sich ein anderes gelegt, geisterhaft und durchsichtig. Gustavos Gesicht.
Wer auch sonst würde das wagen?
„Hast du dich also befreit?“ erwiderte Xavier ruhig. Sollte der nidloische Magier nicht bemerken, wie schlecht es ihm ging.
„Ja“, bediente dieser sich Arianes zerfetzten Stimmbändern und grinste. Ein Gurgeln war zu vernehmen. „Du hast mir ja ganz schön zugesetzt, Dickerchen, aber das ist vorbei.“
Eine verzerrte Fratze starrte ihn an. Ein tiefer Schnitt in Xaviers Seele, seine Geliebte so zu sehen. Ganz plötzlich schnellte ihr toter Körper vor, den Mund weit aufgerissen und biss sich in Xaviers rechten Unterarm fest. Blut blubberte aus ihren Mundwinkeln und nässte den Fußboden.
„Dann versuch das mal“, sagte der Leichnam noch, bevor Gustavo aus ihm verschwand und er zu Boden stürzte.
Augenblicklich floss aus Xaviers Bisswunde schwarzes Blut. Die Zähne der Toten würden für seinen Tod sorgen, wenn er nicht sofort etwas unternahm. Und er sah nur eine Möglichkeit. Wieder in der Küche fand er sein elektrisches Brotmesser. Etwas anderes gab es nicht und die Zeit war zu knapp, um eine Axt oder Motorsäge zu besorgen.
Xavier biss seine Zähne fest zusammen; die Stelle um die Bisswunde war schon schwarz und rissig; und ratternd senkte sich das Sägeblatt des Brotmesser in sein Fleisch, zerriss Muskeln, Sehnen, Knochen. Siebzig Sekunden später war es vorbei. Rotes Blut bespritzte die Wände, bis Xavier es stoppen ließ. In der Spüle lag sein Unterarm, noch zuckend und nun gänzlich schwarz entstellt vom Gift der Toten.
Ein überflüssiges Opfer. Hätte er doch früher daran gedacht. Aber das viele Fernsehen hatte ihn faul werden lassen, ihn und seinen Geist. Sollte er das Duell überleben, würde er diese Flimmerkiste abschaffen. Seine Reflexe waren ja geradezu eingeschlafen.
Zum Glück ließ er mir den rechten Arm, dachte er und trank erneut die Tierblut-Mixtur, um zu Kräften zu kommen. Jetzt war Xavier nicht nur wütend und vergeltungssüchtig, nein, jetzt wollte er es sich selbst beweisen; dass er noch gewinnen konnte, wie er es in den letzten vier Jahrhunderten regelmäßig getan hatte.
Gustavo aufzuspüren war leicht, brauchte sich der Hexer nur seinen Hamburger Stadtplan vor das Gesicht halten und eintauchen, während er an den nidloischen Magier dachte. Sein transzendenter Geist suchte in den Straßen nach einem Anhaltspunkt, ließ den Hafen hinter sich, die Innenstadt, dann Barmbek und Bramfeld.
Er fand seinen Feind schließlich in Poppenbüttel, am Bahnhof, wo er einen Kiosk aufmischte. Wahrscheinlich aus purer Freude an der Zerstörung. Bei Gelegenheit wollte Xavier ihn fragen, wie er hatte fliehen können. Aus dem Hexer-Gefängnis.
Einen letzten Blick auf das blutige Desaster in seiner Wohnung werfend, schlangen sich schon die Nebel der Transportation um seinen Körper. Nicht viel später erreichte er den Poppenbüttler Bahnhof. Regen fiel keiner mehr, aber die Wolken hingen bedrohlich am Himmel. Als wollten sie vor der bevorstehenden Konfrontation warnen.
Gustavo zertrat gerade einen am Boden liegenden Passanten mit seinen Stiefeln, als Xaviers Stimme durch die Regennacht peitschte: „Nicht viel dazu gelernt, was? Du weißt doch, dass das Karma dich einholen wird, wenn deine Zeit gekommen ist und jeder Unschuldige bedeutet dann mehr Qualen für dich.“
Gustavo drehte sich grinsend zu ihm. In seinen Augen lag Mordlust. Vom Genie des Hexens bis zum Wahnsinn waren es nur wenige Schritte. Der nidloische Magier war sie schon vor langer Zeit gegangen. Xavier hatte nie in Erfahrung bringen können, warum, und heute war es sowieso egal.
Niemand war auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof zu sehen. Alle waren geflohen vor der Gewalt des nidloischen Magiers, dessen Gestalt nun doppelt so groß war wie
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