Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Referendarin!“ Er warf sein glattweißes Lächeln in meine Richtung.
Ich trat automatisch einen Schritt nach vorn, als hätte er mich angestupst.
„Guten Morgen“, sagte ich.
„Is schon längst Mittag!“, brüllte ein schwarzhaariger Junge aus der dritten Reihe zurück. Die Klasse reagierte mit Gelächter.
„Nicht so, Kenan“, rief Klare vom Tisch. „Klar?“
„Klar, Herr Klare“, rief der Junge, der Kenan hieß, und wurde wieder mit ein paar Kicherern belohnt. „Ich wollt’s nur gesagt haben.“
Ich musste darauf reagieren, damit sie mich ernst nahmen, aber ich konnte nicht. Ich fühlte mich plötzlich wie eine Schauspielerin, die auf der Bühne feststellt, dass das Stück, das gerade gespielt wird, nicht das ist, was sie gelernt hat. Dabei hatte ich mich doch vorbereitet!
„Also, ich werde euch dieses Halbjahr in Musik unterrichten“, sagte ich. Ich bemühte mich um einen Tonfall, der sich nicht anbiederte. Nicht zu jovial, sagte ich mir. Aber auch nicht zu ernst. Doch im Vergleich zu Jens Klare, der auf dem Tisch sitzend mit dem Fuß wippte, als würde er einen Song hören, fühlte ich mich automatisch steif und altjüngferlich. „Bevor ich aber selbst unterrichte, werde ich den Unterricht ein paar Wochen lang von der letzten Reihe aus beobachten.“
„Wie … und dafür gibt’s Geld?“, rief Kenans Banknachbar. „Fürs Rumhocken? Da werd ich auch Lehrer!“
Kenan fing brüllend an zu lachen und versetzte seinem Nachbarn einen anerkennenden Boxhieb gegen die Schulter. Jens Klare reagierte nicht darauf. Ich merkte, dass ich langsam ärgerlich wurde, beschloss aber, dass Streit die falsche Art war, eine Freundschaft mit der Klasse zu beginnen, und ging steif durch den Raum zu meinem Platz. Mein Stuhl stand ganz hinten, fast in der Ecke. Als ich mich setzte, kam ich mir einen Moment lang so vor, als müsste ich eine Strafe abbüßen.
- - -
Schon nach vier Wochen hatten Polly und ich unsere Rituale. Eins davon war: samstags ins Orion zu gehen.
Nicht nur Polly freute sich darauf, lackierte sich die Nägel und föhnte sich und mir trällernd die Haare – auch ich selbst war froh, mal etwas anderes zu sehen als das Klassenzimmer.
Wir zogen hohe, schwarze Schuhe an, deren Spitzen Polly mit Textillack flammendrot eingefärbt hatte, malten uns Silber auf die Lider, flatterten durch die Wohnung wie aufgeregte Papageien.
Als wir die Wohnungstür öffneten, fielen uns zwei neue Felsbrocken ins Auge.
„Vielleicht soll hier Prometheus gedreht werden?“, überlegte Polly. „Auf dem Ding soll er angekettet werden, und der Adler frisst seine Leber!“ Sie warf sich auf den größten Brocken und schlug dann um sich, als würde sie von einem Schwarm Adler angegriffen.
„Wenn schon, dann der Bussard. Wegen dem B.“ Ich schloss die Tür ab. „Lass den Scheiß!“, sagte ich, als Polly mit ihrem Gezappel die gelben Gummistiefel umwarf, die immer auf der Schwelle standen. Gelb, mit einem orangen Rand. Wozu brauchte man Gummistiefel in der Stadt? Ich stellte sie wieder ordentlich hin. Dabei fiel mein Blick erneut auf das Namensschild.
B. Flössow. Polly war von den künstlichen Brocken fasziniert, mir gefiel das B. Manchmal frage ich mich, ob alles passierte wäre, wenn anstelle des Bs einfach nur Beata dagestanden hätte oder Bernd. Das B war geheimnisvoll. Es ließ sich mit allem füllen.
Wir bekamen B nicht zu Gesicht. Aus irgendeinem Grund liefen wir uns nie über den Weg. Anfangs hatte mich das gewundert. Dann nicht mehr. So wie zwei Uhren in weit voneinander entfernten Ländern zwar in verschiedenen Stunden, aber dennoch im selben Takt ticken, so tickte auch unser Leben auf zwei parallelen Bahnen. Wir lebten unsichtbar nebeneinander her, und es machte mir Spaß, auf die Geräusche in der Wohnung nebenan zu lauschen.
Was uns auffiel: B bekam oft Besuch. Mädchen im Alter meiner Schülerinnen, manchmal ein Junge, wie ich mit einem Blick durch den Spion feststellte. Zweimal die Woche kam einer die Treppe hoch, klopfte an Bs Tür, und sobald der Summer ertönte, griff er oder sie nach den Gummistiefeln und verschwand in der Wohnung. Kurz darauf ging in der Wohnung das Radio an. Faszinierend.
Wenn der Besuch gegangen war, standen die Stiefel wieder auf der Schwelle. War B eine Frau oder ein Mann? Wie alt war er oder sie? Was waren das für Schüler? Wieso trugen sie die Stiefel hinein und wieder hinaus? B war ein Rätsel für mich.
Während Polly sich also täglich fragte, wozu die
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