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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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Johannes-Kepler-Schule, K1, 5.“
    Der Zug summte. Draußen zischte Hildesheim vorbei. In drei Stunden würden wir in Mannheim ankommen. Die letzten Wochen waren mit Organisieren, Packen und Wohnungssuche dahingeflogen.
    Als wir eingestiegen waren, hatten Polly und ich ein Zugabteil ganz für uns. Doch in Braunschweig hatte ein Typ die Glastür aufgeschoben, kurz etwas gemurmelt und dann seinen Rucksack auf einen freien Platz geworfen.
    Er trug einen grobmaschigen Strickpullover in einem abschreckenden Ocker und ein Hemd darunter. Als wäre das nicht schlimm genug, zog er einen eselsohrigen Thriller aus dem Rucksack, auf dessen Cover blutige Hände über eine Glasscheibe tasteten. Als er anfing zu lesen, machte Polly übertriebene Gesten, wies erst auf die Glastür, dann auf das Cover, dann tat sie so, als würde sie sich erwürgen und wies mit großen Augen auf ihn. Ich hatte in mich hineingegrinst und mir noch einmal die Korrespondenz mit der Schule in Mannheim herausgenommen.
    „Was hast du gesagt?“, fragte Polly und sah hoch. Sie hatte einen Reiseführer von Mannheim auf dem Schoß.
    „Die Schule“, sagte ich und tippte auf den Umschlag, „hat keine richtige Adresse.“
    Polly griff danach, warf einen Blick darauf und sagte: „Hier steht’s doch: „K1, 5.“
    „Davon rede ich ja. Sieht aus wie’n Aktenzeichen!“
    „Nein, es heißt, dass die Schule im K-Quadrat liegt“, sagte Polly nur und las weiter.
    Der junge Mann hatte in dem Moment, in dem Polly angefangen hatte zu sprechen, aufgehört zu lesen. Sein Kopf war hochgezuckt, als hätte ihn etwas gebissen. Er sah Polly entgeistert an. Nicht schon wieder, dachte ich, beschloss aber, einfach so zu tun, als würde ich es nicht merken. Außerdem war meine Frage noch nicht beantwortet.
    „Wie, du hast mir das schon erklärt?“, fragte ich.
    „Als ich die Wohnung gefunden hab“, sagte Polly, ohne aufzusehen. „Da hab ich dir doch erklärt, dass sie ganz in der Nähe der K-Quadrate ist. In den Quadraten gibt’s keine Straßennamen.“
    „Quadrate?“
    Polly senkte den Reiseführer. „Mannheim ohne Quadrate wäre wie die Mecklenburgische Seenplatte ohne Seen“, sagte sie und hielt den Reiseführer hoch. Mannheim. Leben im Quadrat. Der Slogan stand fett auf dem Cover. „Es ist ein Buchstaben-Zahlen-System. Es funktioniert wie beim Schach. Das müsste dir als Mathematikerin doch gefallen“, erklärte sie. „Wenn ich dir sage: Ich zieh meinen Springer auf C3 – dann weißt du doch sofort, wo er steht, oder?“
    „Aber wie klingt denn Ich wohne in C3 ?“, sagte ich, „Als würde man im Knast wohnen!“
    „Oder in O2“, sagte Polly und kicherte. „Zu jedem Handyvertrag gibt’s eine Wohnung gratis dazu …“
    Sie wollte weitersprechen, da platzte der Typ dazwischen. Ich hatte ihn fast vergessen. „Hal-lo?“ Er hatte den Thriller zugeklappt. Ich sah auf den Titel Ich bin dein Henker ! Was Klamottengeschmack anging, stimmte das auf jeden Fall.
    „Aber sonst ist alles okay mit dir?“, schnauzte er Polly an.
    „Ja, danke, und selbst?“, fragte Polly freundlich zurück. Da schnappte er sich seine Jacke und den Rucksack und stürmte aus dem Abteil. Als wäre es voller Hornissen. Die Tür blieb offen. Auf dem Gang drehte er sich noch einmal um, und als er merkte, dass ich ihn beobachtete, stürzte er weiter, als säßen die Hornissen ihm schon im Nacken.
    „Was hab ich denn jetzt falsch gemacht?“, fragte Polly leise.
    „Gar nichts.“
    - - -
    Unsere Wohnung lag im Jungbusch. Der Vermieter, Tobias, war für ein Jahr in Australien. „Der Jungbusch ist ziemlich berüchtigt“, hatte Polly gesagt, als sie die Wohnung bei studenten-wg.de entdeckt hatte.
    „Was soll das denn heißen, berüchtigt?“, hatte ich gefragt.
    „Na ja, schäbig“, hatte Polly gesagt. „Und cool. So wie Kreuzberg in Berlin vielleicht. Berüchtigt eben.“
    Jetzt, als ich den Koffer über die gerissenen Gehwege rollte, verstand ich, was Polly gemeint hatte. Die Gegend war unsaniert, die Fassaden bröckelten. Die Häuser trugen Graffiti: schmissige Kunstwerke, eine selbstsicher krakeelende Geheimschrift quer durch die Straßen und Gassen.
    Ja, es war cool, im Jungbusch zu wohnen. Leerstehende Wohnungen gab es nicht. Was leerstand, wurde besetzt. Das Leben blühte, es gedieh in jeder Ritze, streute sich über- und unterirdisch aus. Was Parterre lag, wurde Kneipe oder Bar. Live-Musik war ein Markenzeichen des Viertels.
    Unser Haus lag in der Hafenstraße. Es war ein

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