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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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nicht.
    „Ab heute werde ich euch unterrichten.“
    Kenan verdrehte die Augen, stöhnte laut und legte den Kopf demonstrativ auf den Tisch. „Bald haben wir nur noch Weiber an der Schule!“
    „Na na, Kenan“, sagte Klare, dann stieß er sich vom Tisch ab und lief durch das Klassenzimmer nach hinten. „Macht mir keine Schande!“ Sein Schritt war federnd, als wollte er gleich lossprinten. Automatisch warf ich einen Blick auf seine Schuhe. Sneakers von Nike. Natürlich. „Ich zähl auf euch, Leute!“ Dann setzte er sich auf den Platz ganz hinten, auf dem ich bisher gesessen hatte.
    Ich atmete durch, und im Geist dankte ich Polly dafür, dass sie mich heute Morgen davor bewahrt hatte, das auffällige Hippiekleid anzuziehen. An dem würde ich jetzt herumzupfen, was alles nur verschlimmert hätte.
    ‚Du musst was tragen, in dem du dich wohl fühlst‘, hatte sie gesagt, mir das Kleid aus der Hand genommen und stattdessen Jeans und einen schlichten roten Pullover rausgesucht. ‚Wenn dir das zu lahm ist, dann zieh das dazu an.‘ Sie zauberte etwas Funkelndes aus ihrer Schublade und warf es mir zu. ‚Ich nenne diese Kreation Am Puls der Zeit. ‘ Ich fing es auf.
    ‚Mensch, das ist ja … ein Traum!‘, rief ich, als ich sah, was ich in der Hand hielt.
    ‚Echt? Mist! Es sollte eigentlich ein Gürtel werden!‘
    Aber was für einer! Sie hatte auf meinen alten Ledergürtel all die Uhren genäht, die sie bei Humana gekauft hatte.
    Als ich jetzt vor dieser Klasse stand, die mich so herzlich in Empfang nahm wie ein Gefrierschrank, war ich froh, den Gürtel um mich zu spüren. Er erinnerte mich daran, dass es jemanden gab, der mich mochte und an mich glaubte.
    „Wir fangen mit …“
    „Wie alt sind Sie denn eigentlich?“, unterbrach mich ein langer, pickliger Junge, der so bleich aussah, als würde er im Keller wohnen und nie Gemüse essen.
    „Älter als du. Jünger als der Papst.“
    Keine Reaktion. War das überhaupt p.c. gewesen? Vielleicht hätte ich Allah sagen müssen, schließlich trug die Hälfte der Mädchen ein Kopftuch.
    „Ich …“ Ich räusperte mich. „Wir fangen mal mit der Vorstellung an. Wer ich bin, wisst ihr ja. Aber mich würde interessieren …“ Ich kam langsam in Schwung. „… was ihr gern mal im Musikunterricht machen würdet. Wer fängt an?“
    Keiner sagte etwas. Die Schüler sahen so aus, als wollten sie vor Langweile am liebsten zu Staub zerfallen. Innerlich gab ich mir eine Ohrfeige. Ich hätte den ersten Schüler in der ersten Reihe aufrufen sollen und dann alle anderen, nacheinander weg. Das Schweigen zog sich. Kein guter Start. Ich wollt gerade irgendeinen aufrufen, da meldete sich das Mädchen mit dem mausblonden Haar. Ich hätte sie dafür umarmen können.
    „Yvette“, sagte sie. „Ich heiße Yvette Steinmann.“ Ihre Stimme war ganz leise. Wie ein Windchen. „Und … na ja … ich würde es gut finden, wenn wir in Musik mal was … Modernes singen würden. Nicht immer so –“
    Kenan unterbrach lautstark: „Was soll’n für dich modern sein – die Kelly-Family?“ Alles lachte. „Du hast doch von Musik keine Ahnung!“
    Yvette zog sofort den Kopf ein und sah auf die Tischplatte.
    „Gut“, sagte ich, ging vom Lehrertisch zum Klavier, setzte mich auf den Hocker und sagte: „Dann kommen wir jetzt zu dir, Kenan. Spielst du vielleicht noch irgendein anderes Instrument außer Axt?“
    Kenan wehrte sich und rief das Gleiche wie immer: „Ich werd ja wohl noch was sagen dürfen.“
    „Sicher“, sagte ich. „Wenn die andere fertig ist mit Sprechen.“ Ich klappte den Klavierdeckel hoch.
    Kenan stöhnte: „Oh nee, jetzt kommt Volksmusik …“
    Ich achtete gar nicht darauf, sondern wendete mich wieder an Yvette. „Meintest du vielleicht so was?“
    Ich ließ die Finger über die Tasten gleiten, ohne eine nach unten zu drücken, nahm die Hände jäh von den Tasten und klopfte stattdessen mit den Knöcheln gegen den aufgeklappten Deckel. Ich klopfte einen schnellen, harten Rhythmus und sang: „Nana nana nana naaa, nana nana na naaaa.“
    Seit Tagen hörte Polly dieses Ding auf dem Laptop rauf und runter.
    Ein bis zwei sahen irritiert hoch, erkannten offenbar etwas wieder, konnten es aber nicht gleich einordnen. Doch als ich begann: „I got a brand new attitude … and I’m gonna wear it tonight … I’m gonna get in trouble … I wanna start a fight!“, fingen Yvette und die anderen Mädels an zu grinsen. Und als ich dann endlich in die Tasten griff und auf den

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