Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Felsbrocken wohl da seien, bereitete es mir Vergnügen, mir nebenan ein Gesicht vorzustellen, das sich an dem einen Tag vor dem Spiegel rasierte und am anderen die Nägel lackierte.
Wir stöckelten an den Brocken vorbei, die drei Stockwerke hinunter, durch die Eingangstür auf die Straße. Das Orion lag nur fünf Minuten entfernt, und wir hatten uns von Anfang an auf eine Regel geeinigt. Wir wollten keine schiefen Blicke mehr riskieren, kein Getuschel oder gar Hausverbot. Polly sollte nicht reden. Was auch geschah: Polly würde den Mund halten und mich reden lassen.
Wir stießen die Tür auf und betraten die Bar. Es war eine Saloontür, die zischend auf- und zuschwang. Wir hatten schon unseren Stammplatz. Es war ein Zweiertisch in unmittelbarer Nähe zum Klavier.
Jeden Samstag saß dieselbe Frau am Klavier. Von den Rufen der Barbesucher wussten wir inzwischen, dass sie Gudrun hieß. Sie trug gewagte Kleider, die viel Bein zeigten und ihre Hüften und Oberweite betonten. Sie sah verlebt aus, ihre Schönheit war aufgebraucht, zerschlissen, aber ihr Mund war stets in einem heftigen Rot geschminkt, und die Augen hatte sie mit Kajal so umrandet, dass es aussah, als würde sie einen aus schwarzen Fensterrahmen anschauen. Immer nach drei Songs stand sie auf, ging an die Bar und zündete sich eine dünne, dunkle Zigarette an, die sie stehend rauchte. Jetzt stand sie noch gegen das Klavier gelehnt und nippte an einem Drink in einem schlanken Glas. Sie war fantastisch. Sie hatte den selbstbewussten, abgerissenen Charme der ganzen Gegend.
Der Typ hinter der Bar gefiel mir nicht. Er hieß Paul und war offenbar der Chef hier, und selbst wenn er alle Hände voll zu tun hatte, Bier auszuschenken, ließ er Gudrun nicht aus den Augen. In seinem Kopf schien eine Uhr zu ticken, denn obwohl es gerade mal fünf vor acht war, ließ er ihr nicht mal die Zeit für den Drink. Er kam ans Klavier, nahm ihr das Glas aus der Hand und machte eine unmissverständliche Geste hin zum Klavierhocker.
Ich sah, wie Gudrun zu einer Antwort ansetzte, es dann aber doch sein ließ. Sie schaute ins Publikum, ihr Blick blieb an uns hängen, sie lächelte und setzte sich. Dann klappte sie den Deckel hoch und fing an. Über dem Klavier hing eine Diskokugel. Sie drehte sich langsam und warf winzige, farbige Lichtstücke über die Tische und Gläser.
Nach einer Weile schob Polly mir einen Zettel hin. Ich musste schon grinsen, bevor ich wusste, was da stand. Polly kommentierte wieder einmal Gudruns Kleiderfarbe. Denn obwohl ihre Kleider raffiniert geschnitten waren und wie eine zweite Haut saßen, war die Farbe immer scheußlich. Auch heute. In diesem pampigen Dunkelbraun hätte jedenfalls niemand gut ausgesehen, nicht einmal Keira Knightley, die wahrscheinlich auch einen Scheuerlappen tragen konnte, ohne ihre Elfenhaftigkeit zu verlieren.
Ich warf unauffällig einen Blick auf den Zettel. Und hier ein weiteres Stück aus der Erfolgsserie „Blinde Designer“ – Modell: Soße. – Jetzt mal im Ernst, diese Farbe steht doch höchstens einem Schweinebraten. Gudrun sollte Rot tragen!
Gudrun spielte und begann dann zu singen. Cry Me a River von Ella Fitzgerald, sie fing immer mit diesem Lied an. Fing an, den Raum mit ihrer verrauchten, traurigen Stimme zu füllen, nein, nicht nur den Raum, sondern diesen ganzen, großen Abend, der durch die Fenster hereinströmte, uns, einfach alles. Now you say you’re lonely … Hin und wieder sah sie auf, sah zu unserem Tisch, als würden wir uns kennen, als wären wir Freunde. Now you say you love me … and just to prove you do … come on and cry me a river … I cried a river over you … Wir saßen jeden Samstag bis nach Mitternacht dort, nippten an unseren Drinks, lauschten und funkelten, während um uns herum die Bar vibrierte.
S
„Also, ihr kennt mich ja jetzt schon von den letzten Stunden“, begann ich.
Ich versuchte, selbstsicher und locker zu wirken. Nicht zu locker, nicht zu selbstsicher, rief ich mir die Ratschläge für die erste Unterrichtsstunde ins Gedächtnis.
Vor mir saßen dieselben fünfundzwanzig Fünfzehnjährigen, bei denen ich seit Wochen hospitierte. Sie beobachteten mich ganz genau. Jens Klare lehnte locker am Lehrertisch und verströmte den Duft intensiver Zahnpflege und eines Aftershaves, das man auch als Raumspray verwenden könnte. Er sah so aus wie immer: als würde er gleich fotografiert werden. Er war der Einzige in diesem Raum, der lächelte. Es beruhigte mich ganz und gar
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