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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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Refrain zutrieb, merkte ich, dass die Jungs meinen Klopfrhythmus übernommen hatten, dass sie ihn auf die Tischplatten hämmerten, dass sogar Kenan mitmachte, während die Mädels gemeinsam mit mir in den Refrain stürzten: „So what! I’m still a rock star! I got my rock moves! And I don’t neeeeed you!“
    Ich hatte Glück. Sie mochten Pink .
    - - -
    Am nächsten Tag war der Winter vorbei. Es war Samstag, und Polly riss alle Fenster auf. Es war nicht lau, es war schwül. Diese drückende Wärme, die nur entsteht, wenn das Wetter sich zu schnell ändert.
    Wir standen am Fenster, hielten die Arme hinaus, sahen den Möwen zu, die wild umherflogen. Draußen, am Hafen spielten ein paar Kinder. Sie warfen Steine ins Wasser, schlugen mit langen Stöcken auf die Oberfläche und riefen sich etwas zu. Wir überlegten gerade, ebenfalls rauszugehen und einen Spaziergang zu machen, an den Hebekränen vorbei, mit der Nase in dieser Frühlingsluft, als plötzlich die Zeit anhielt.
    Nichts bewegte sich. Nicht die Bäume, nicht die Büsche vorm Haus. Die Möwen waren weg, keine Ente war mehr auf dem Wasser zu sehen. Und die Luft – stand. Nur die Kids waren weiter in ihr Spiel vertieft und schienen nichts zu merken. Und dann war es, als würde nicht mehr die Sonne, sondern ein riesiger Scheinwerfer die Szenerie beleuchten.
    Wir sahen nach oben. Der Himmel war weiß, unnatürlich weiß, er krachte einem in die Augen. Über diesen Himmel fetzten Wolken und explodierten. Hier war noch nichts davon zu spüren, aber dort oben tobte ein Sturm. Wolken, die aussahen, als würden sie kochen. Sie brannten von innen und hatten harte, schwarze Ränder. Mit einem Schlag wurde es dunkler, und ein eisiger Wind zog ins Zimmer. Gänsehaut kroch meine nackten Arme hoch.
    Als Polly das Fenster schließen wollte, passierte es: Ein Windstoß riss es ihr aus der Hand, es knallte gegen die Wand, ein Blitz zuckte über den Himmel, ewig lang und fein verästelt, und die Elektrizität schien greifbar, sie durchknisterte die Luft – die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Nicht einmal eine Sekunde später krachte es draußen, und fast zeitgleich knallte etwas in unserer Wohnung. Dann war es dunkel.
    - - -
    Polly stand vor dem Fernseher, der plötzlich still war, drückte auf die Knöpfe, ging zum Radio, drückte dort, ging dann zum Laptop, zum Kühlschrank, und nachdem sie ihre Runde beendet hatte, drehte sie sich zu mir um und sagte: „Ich glaube, wir haben ein Problem, Mila. Wir sind gegen alles versichert, aber nicht gegen Überschwemmung, Schneedruck und … drei mal darfst du raten.“
    „Blitzschlag“, sagte ich.
    „Exakt.“
    Genau in diesem Moment setzte der Sturm für einen Herzschlag aus, und wir hörten den Schrei. Wir stürzten zum Fenster. Am Hafen bewegte sich etwas, da waren immer noch die Kids, aber dann sah ich nichts mehr, denn es pladderte vom Himmel, und der Sturm ging dazwischen und verwischte alles.
    Polly aber musste etwas Bestimmtes gesehen haben, denn sie brüllte plötzlich auf und stürzte ohne Erklärung aus der Wohnung. Ich rannte hinterher und hatte Mühe, Schritt zu halten. Sie flog geradezu die Treppen hinab, stürzte aus dem Haus, rannte über die Straße zum Hafen, schrie dabei, schrie sich die Lunge aus dem Leib. Und dann sah ich es endlich auch.
    - - -
    Sie waren zu viert. Drei waren etwa zwölf Jahre alt, der vierte war älter und größer. Er war der Anführer.
    „Das können sie nicht machen!“, schrie Polly und rannte durch den Sturm. Sie war klatschnass, die Haare hingen ihr im Gesicht. „Diese Schweine. Feige Säcke! Alle auf einen! – Die bringen ihn um, Mila. Die wollen ihn wirklich umbringen!“
    Und dann sah ich, wen Polly meinte. Zum ersten Mal sah ich Vincent.
    - - -
    Sie hatten ihn ins Hafenbecken geworfen. Dort schwamm er hilflos herum, während der Regen das Wasser peitschte. Sobald er versuchte, ans Ufer zu kommen, stachen sie mit Stöcken nach ihm, warfen Steine und trieben ihn zurück in die schwarze Brühe. Er schrie um sein Leben, aber niemand war draußen bei dem Wetter.
    Ihnen machte der Regen nichts aus. Das Adrenalin wärmte sie. In einem kurzen Moment, als der Sturm Atem schöpfte, um dann aufs Neue auszuholen, hörten wir sie brüllen: „Rechts! Er versucht, nach rechts zu entwischen!“, „Los, treib ihn zurück! Schlag ihn aufs Ohr“, „Ich glaub, er wird schon langsamer …“, während Vincent schrie und den Stöcken auszuweichen versuchte und irgendwann nicht mehr

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