Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
schmelz ich dann natürlich sofort dahin“, sagte ich und fummelte mit dem Schlüssel an unserer Tür herum. Polly entzifferte das Namensschildchen unter der Klingel nebenan. „B. Flössow“, flüsterte sie. „B? Wofür das wohl steht – B wie Bund der Brockenbesitzer? Bündnis der Bärenbändiger oder Bereich der Bühnenbildner?“
Dann war unsere Tür offen.
- - -
Polly wendete sich sofort von der Nachbarstür ab und stürzte an mir vorbei in die Wohnung. Als Erstes lief sie zum Fenster. Der Blick ging auf den Rhein, auf zwei Kräne, die wie mit Mäulern in den Himmel griffen, und eine Berglandschaft aus Containern. Moosgrüne Evergreens, Hapag Lloyds in staubigem Orange und blau-weiße Samskips .
„Klasse!“, rief sie. „Einfach Klasse!“
Ich rollte den Koffer in eine Ecke und sah mich um. Ein kleiner geweißter Würfel mit Kochnische. Ein rotes Plüschsofa, ein Kokosteppich, marokkanische Lampen.
„Gemütlich“, sagte ich. Nach dem Studentenwohnheim in Potsdam würde dies unser erstes eigenes Zuhause werden.
Das Wohnheim. Zimmer 12. Das letzte im Gang. Ganz am Anfang, als wir gerade eingezogen waren, hatten die Studenten in unserem Gang noch gelacht, wenn ich mit Polly in die Küche ging, um dort, so wie alle anderen auch, Nudelsuppe zu kochen oder Spiegeleier zu braten. Sie hatten gelacht, als hätte ich einen originellen Witz gemacht.
Aber nach und nach verstummten sie. Dann wichen sie uns aus. Irgendwann hatte Polly aufgehört, das Zimmer zu verlassen. Sie kam nur noch in dringenden Fällen heraus.
Eines Nachts hatte jemand mit rotem Permanentmarker FREAKSHOW auf unsere Tür gekrakelt. Das Zeug ließ sich einfach nicht abschrubben. Aber sie hatten Polly zumindest nie an den Hausmeister verpfiffen. Obwohl sie ohne Erlaubnis bei mir wohnte. Trotzdem hatte ich immer Angst, es könnte herauskommen. Und Polly auch.
- - -
„Hallihallo, ich bin Ihr Mentor!“
Ein Mann in Jeans und mit sorgfältig verwuscheltem Haar kam im Lehrerzimmer auf mich zu. „Jens Klare.“ Eine Mentholwolke begleitete ihn. Offenbar benutzte er Mundspray. „Wir zwei werden also in den nächsten Monaten miteinander arbeiten“, wirbelte mir ein neuer minzehaltiger Satz entgegen. Die Zähne, die sein Lächeln enthüllte, wirkten so weiß und makellos, dass ich nur mit Mühe den Blick losreißen konnte. Zähne wie aus der Kukident-Werbung. „Unsere Schüler beißen nicht, Frau Helmholz. – Darf ich vielleicht Milana sagen?“ Er hielt mir die Hand hin. „Also, ich bin Jens.“ Wieder dieses puderzuckerweiße Lächeln.
Ich nickte überrumpelt und ließ es zu, dass er meine Hand nahm und schüttelte.
„Na prima, dann mal los“, sagte er, und ich konnte gerade noch verhindern, dass er mir die Tasche abnahm. „Ab ins Krisengebiet 9b.“
Er ging mit mir den Korridor entlang, und sobald ein Schüler uns entgegenkam und ihn grüßte, rief er zurück: „Moinsenius, Kevin!“ oder „Aloha, Lena!“ oder „Tachchen, Tachchen, ihr drei!“
Das war ja nicht zum Aushalten. Dieser Jens war mindestens Ende vierzig, trug ein T-Shirt, auf dem Kermit als Surfer abgebildet war, und – was viel schrecklicher war – er schien wahnsinnig stolz auf seinen auf jugendlich getrimmten Tonfall zu sein. Es war dieser Tonfall, den ich selbst früher immer gehasst hatte. Fehlte nur noch, dass er Schalömchen sagte. Ob andere Mentoren auch so waren?
- - -
Wir traten in den Klassenraum. Fünfundzwanzig Neuntklässler schrien durcheinander, kabbelten sich, hörten Musik übers Handy. Mein Herz schlug einen Tick schneller.
„Hi Folks!“, rief Jens Klare. „Jetzt fahrt mal die Lautstärke runter! Piano, piano!“
Ich sah meinen Mentor betreten von der Seite an. Jetzt setzte er sich halb auf den Lehrertisch, und während alle sich auf ihre Plätze verzogen, sagte er jovial: „Leute, ich will euch jemanden vorstellen.“
Alle schauten mich an. Ein paar Jungs grinsten. Ich fühlte mich wie ein Jux auf Beinen. Die meisten verzogen keine Miene. Nur zwei Mädchen lächelten mich schüchtern an. Eine trug ein Kopftuch, hatte aber wie zum Trotz ihre Brauen in einem feurigen Zickzackmuster rasiert. Die andere hatte mausblondes Haar, und sie trug es wie ich zehn Jahre zuvor: glatt herunterhängend. Diese unentschlossene Länge, weil Ina mir nicht erlaubt hatte, es richtig abschneiden zu lassen, genau bis zur Schulter, weder lang noch kurz. Ich lächelte zurück.
„Also“, sagte Jens Klare. „Das hier ist Frau Helmholz, die neue
Weitere Kostenlose Bücher