Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
schrie, sondern einfach nur noch schwamm, sich über Wasser zu halten versuchte.
Polly rannte wie eine Irre. Ich sah, wie die vier sich umdrehten. Und dann setzte mein Herz einen Schlag aus. Ich wollte Polly rufen, sie zurückrufen, aber der Sturm riss mir die Worte vom Mund.
Der Älteste war Kenan.
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Als sie Polly sahen, fingen sie an zu lachen. Dann stellten sie sich in eine Reihe, bildeten eine Mauer. Sie taten es ohne besondere Eile. Polly, das sah ich ihren Gesichtern an, stellte keine Gefahr für sie dar, eher eine willkommene Abwechslung. Kenan schrie: „Na los, komm schon!“, machte eine obszöne Geste und zog dann ein Klappmesser aus der Hosentasche. Ein Messer!
Polly wurde nicht langsamer. Genau wie vorher preschte sie ihnen mit fliegenden Armen entgegen. Und als sie nicht einmal den Büschen auswich, sondern einfach hindurchbrach, als ihr Heulen sich plötzlich zu etwas Seltsamem steigerte, etwas nie Gehörtem, etwas, das selbst mir ins Mark fuhr, ein einziger langgezogener Laut, mit nichts zu vergleichen – kam plötzlich eine Unsicherheit zwischen den Peinigern auf.
Und als Polly nur noch fünf Meter entfernt war, begann ihre Mauer zu zittern. Erst ein bisschen, dann immer mehr, und schließlich zerfiel sie in ihre vier Bestandteile. Die drei Jüngeren spritzten als Erstes weg. Kenan stand noch eine halbe Sekunde mit dem Klappmesser allein da, dann drehte auch er ab und rannte. Rannte wie die anderen. Rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
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Nachdem wir vom Arzt gekommen waren, setzte sich Polly zu Vincent. „Hab keine Angst“, sagte sie. „Es ist vorbei. Alles ist gut.“
Vincent hockte verbunden auf dem Sofa, eine Decke um sich herum, und schaute Polly an. Er sagte nichts. Seine Schweigsamkeit hatte etwas Absolutes. Er war wie eine fest verschlossene Tür. Aber er lauschte ihr. Er lauschte nicht, wie man aus Höflichkeit lauscht. Er lauschte konzentriert, fast leidenschaftlich. Er lauschte, als hätte er sein Leben auf diese Worte gewartet. Auf Polly.
Ich ließ den Blick verstohlen über ihn gehen, denn er reagierte verängstigt auf direktes Anschauen. Sobald ich die Hand hob, duckte er sich, war bereit, aufzuspringen und wegzulaufen. Er sah dürr aus, der Blick war verwässert. Ich wollte mir nicht vorstellen, was ihm alles geschehen war. Der Grad seiner Verwahrlosung verriet, dass er schon lange, vielleicht schon immer, auf der Straße lebte.
Polly hob den Blick und sagte: „Er bleibt erst mal hier, Mila.“
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Ein neuer Laptop kostete mindestens fünfhundert Euro. Hinzu kamen mein Telefon, das im Aufladegerät gesteckt hatte, als der Blitz einschlug, der Fernseher, das Radio, der Kühlschrank, die Waschmaschine, der Drucker, der Scanner und der Router fürs Internet. Bis auf den Kühlschrank waren es alles Sachen von mir.
Ich musste die Miete von meinem Gehalt zahlen, eine Monatsfahrkarte, die Haushaltskosten für Polly und mich, Medikamente für Vincent, Nebenkosten, Versicherungen und so weiter. Außerdem musste ich noch die Rate für den alten Laptop abzahlen, der jetzt kaputt war. Als ich die Zusage für Mannheim bekommen hatte, hatte ich mir aus Übermut ein unverschämt teures Gerät gekauft. Ich war mir sicher gewesen, dass ich es mit meinem Gehalt leicht abzahlen konnte. Einen Totalausfall unserer ganzen Habe hatte ich natürlich nicht vorhergesehen.
Wir brauchten Geld. Präziser: Ich brauchte einen Nebenjob.
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Wir hatten also plötzlich ein Geldproblem, aber das hielt uns nicht davon ab, am diesem Samstag trotzdem ins Orion zu gehen. Es war wichtig, sagte ich mir. Ich konnte nicht auch noch auf unsere einzige Ablenkung verzichten. Das ging schon Polly zuliebe nicht. Sie freute sich so aufs Orion .
„Können wir ihn wirklich allein lassen?“, fragte ich Polly. „Was, wenn er die Bude auf den Kopf stellt?“
„Sieht er so aus, als könnte er das?“
Vincent lag auf dem Sofa und atmete ganz leise. „Nicht wirklich“, sagte ich.
An diesem Abend verzichtete ich auf Make-up und auffallende Sachen. Mir war nicht danach. Nicht nach so einem Tag. Ich zog Jeans an. Eine unspektakuläre Bluse dazu. Als ich schon an der Tür stand, bereit zum Losgehen, kramte Polly in ihren Nähsachen und kam mit einem Tuch zu mir – schwarz mit Silberpailletten. Sie band es mir um die Hüften.
„So siehst du nicht ganz so fad aus“, sagte sie.
Das Tuch war wunderschön. Sie musste all die Stunden, die sie allein mit Vincent in der Wohnung war, während ich
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