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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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sah Jenny nicht an.
    „Quatsch“, sagte Jenny, sah von meinem Bein hoch und prustete los. „Die doch nicht.“
    Wann immer Jenny nach diesem Nachmittag zu Besuch kam, gab ich vor, müde zu sein, und schickte sie weg. Ich konnte ihre dicke, rosige, schwitzende Anwesenheit einfach nicht mehr ertragen. Lieber humpelte ich mittags auf Krücken zu Ma ins Zimmer, beobachtete sie beim Schlafen und sah dann aus dem Fenster in den Garten, der ein langsames und endgültiges Ende nahm.
    Schönewalde schien nur noch aus Staub zu bestehen. Staub, der auf der Straße aufstieg, wenn ein Trecker vorbeikam, Staub, der die Fenster überzog, Staub, den ich auch nachts roch. Jeder Regen, der jetzt noch kommen würde, das hatte ich die Bauern unterm Fenster sagen hören, käme für die Felder zu spät.
    Die Wochen vergingen, mein Bein schwitzte unter dem Gips, und ich ging mit dem Lineal darunter, um zu kratzen. Die Hitze hielt an.
    Ina brachte mir Bücher aus der Bibliothek, damit ich meine Zeit „sinnvoll verbringe“, wie sie sagte. Biografien von Robert Koch und Marie Curie, aber ich schlug sie nicht mal auf.
    Stattdessen griff ich immer öfter nach Unterm Notenbaum , ein Heft, das Ina damals übersehen hatte, als sie Papas illustrierte Bücher aus meinem Regal genommen hatte, weil sie angeblich zu wertvoll waren. Unterm Notenbaum war unscheinbar. Es war eine Notenlehre, ebenfalls mit Zeichnungen von Papa. Früher fand ich es langweilig, es war mir einfach nicht unheimlich genug, doch jetzt studierte ich jede Seite.
    Ich las mir alles durch – ich las, was eine Oktave ist, was halbe und ganze Noten sind, ich las, was ein Kreuz und ein b ist, ich schaute mir die von Papa gezeichnete Klaviatur genau an, schaute, wie die Finger auf den Tasten lagen, humpelte mit dem Heft zum Klavier hinüber, klappte den Deckel auf und legte meine Finger genauso hin. Ich betrachtete das Bild, auf dem ein A aus dem Klavierkörper herausflatterte wie ein Grünfink, betrachtete ein Fis, das wie Rauch über einer schwarzen Taste aufstieg, und ein E, das sich wie ein Kreisel über einer weißen Taste drehte. Ich drückte die entsprechenden Tasten auf dem Klavier und hörte mir genau an, wie A, Fis und E klangen. Dass Buchstaben eine Melodie erzeugen konnten, war mir neu. Sie konnten traurig oder fröhlich, abgehackt und langschwingend klingen. Manche Tasten ergaben, wenn man sie gemeinsam drückte, einen Wohlklang, andere etwas Schrilles. Tag für Tag nahm ich dieses Heft vor, das ich von den Büchern, die Papa illustriert hatte, immer am wenigsten gemocht hatte, ich las es langsam, ich lernte es auswendig, ich saß am Klavier, das nie jemand gespielt hatte, und legte die Finger so, wie Papa es gezeichnet hatte, ich zählte die Sekunden mit, um den Unterschied zwischen Viertel- und Achtelnote herauszufinden, und während ich all das tat, war mir, als wäre Papa im Raum, als sähe er mir zu, als lägen seine Hände auf meinen.
    Ma lag viel im Bett in jenem Sommer; sie konnte nicht atmen. Als ich sie besuchen ging, erzählte ihr aus dem Kopf Der entwendete Brief von Poe . Sie lauschte, und als die Geschichte zu Ende war, sagte sie: „Erzähl mir noch eine, Mila“, und da dachte ich plötzlich an das Mädchen.
    Ich hatte schon ewig nicht mehr an sie gedacht. Ich hatte sie sogar vergessen. Aber jetzt fiel sie mir wieder ein. Wie sie in Halbreich gestanden hatte. Wie ich ihr meine rote Jacke umgehängt hatte. Und wie ich dann diese Riesenangst bekommen hatte. Jäh. Und wieder fing mein Herz an, wild zu schlagen. Genau wie damals. Wieder sah ich, wie ich flüchtete, rückwärts und ohne ihr meine Jacke abzunehmen, weil sie aussah … weil sie aussah wie jemand, der …
    Die verfilzten Haare, ihre zerfledderten Schuhe …
    Die abgeschürfte Haut an den Ellbogen …
    Sie war eine Ausreißerin! Sie hatte ausgesehen, als wäre sie schon seit Wochen unterwegs. So schmutzig. Und so dürr. Und dieses schreckliche, weiße Kleid, mit der Spitze und diesem Seidenbändchen und völlig verdreckt … es war das Kleid einer … einer … nein! Ich wollte nicht daran denken. Ich wollte nicht wissen, wo sie hergekommen und was aus ihr geworden war. Ich wollte mich überhaupt nicht an sie erinnern. Ich presste die Lippen zusammen.
    „Mila?“
    „Ich weiß keine Geschichte mehr“, sagte ich und sah aus dem Fenster.
    Ma folgte meinem Blick und wurde unruhig. Sie wollte wissen, was draußen vor sich ging, und leise beschrieb ich ihr die trockene, hartgeröstete

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