Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
war.
Im Raum herrschte Stille, aber sie waren nicht die einzigen Besucher. Eine Gruppe Studenten betrachtete einen Wandbehang. Eine Schülerin saß in der Nähe auf einem hohen Stuhl, der neben einem der Ausstellungskästen stand, und kopierte in eine Wachstafel eine Passage aus dem Buch, das dort ausgestellt war. Auf der anderen Seite des Raumes ersetzten zwei scharlachrot gekleidete Diener die Gegenstände in einer der Vitrinen.
»Ich verbrachte früher viel Zeit hier«, sagte Seregil leise. »Es ist mir sogar gelungen, über die Jahre hinweg der Sammlung einige Stücke hinzuzufügen.«
Seregil lenkte Alecs Aufmerksamkeit auf eine Vitrine in der Mitte des Raumes, in der eine zarte Blume lag, die aus durchsichtigem, zart rotem Stein geschnitten war.
»Die Blume gehörte der Zauberin Nmia Reshal. Wenn die rechten Worte gesprochen werden, gibt sie einen magischen Duft frei, der jeden, der ihn einatmet, zum willenlosen Sklaven des Besitzers macht. Es gelang ihr, Micum einzufangen, ehe ich die Blume stehlen konnte.«
»Warum hat sie dich nicht auch gefangen?« flüsterte Alec.
»Ich kam von einer anderen Seite damals. Während sie sich auf ihn konzentrierte, hielt ich mir einfach die Nase zu und schlug ihr auf den Kopf. Man darf das Element der Überraschung nie unterschätzen!«
Alec nickte, wandte sich dem nächsten Kasten zu und erstarrte. Dort lagen zwei verschrumpelte Hände, deren Haut die Farbe alten Leders angenommen hatte.
»Was ist das?« hauchte er.
»Ruhig. Das ist etwas Außergewöhnliches. Sieh genauer hin.«
Juwelenbesetzte Ringe steckten an den verrunzelten Fingern, und auf den langen, farblosen Nägeln waren die Spuren verblichener goldener Ornamente zu sehen; auf den schlichten ehernen Handschellen, die um jedes Handgelenk gelegt waren, setzte sich dieses Ornament fort. Jedes Eisenband wurde durch einen langen Dorn gehalten, der durch das Handgelenk getrieben war. Außerdem war alles an den Boden des Kastens angekettet.
Alec starrte verwirrt und voller Ekel auf die Hände. »Was in aller Welt sind …«
In diesem Augenblick hob sich einer der ledernen Zeigefinger und senkte sich, als schelte er Alecs neugieriges Betrachten.
Seregil hatte seinen Freund genau betrachtet. Sobald er sah, wie die Hand sich bewegte, ließ er einen Finger langsam über den Rücken des Jungen gleiten, und Alec fuhr mit einem Aufschrei aus seiner Versunkenheit.
»Verdammt, Seregil!« stieß er hervor und wirbelte herum.
Die Studenten sahen sich fragend nach ihm um. Die Schülerin ließ ihren Griffel fallen und begann zu kichern. Die Diener tauschten lediglich gelangweilte Blicke aus.
Seregil lehnte sich gegen eine der Vitrinen und schüttelte sich vor Lachen.
»Es tut mir leid«, sagte er schließlich, fühlte sich jedoch alles andere als reumütig, als er mit dem Mädchen wissende Blicke austauschte. »Dieser Streich wurde gewiß jedem Schüler hier gespielt, ich bin keine Ausnahme. Ich konnte einfach nicht widerstehen.«
»Du hast mich fast zu Tode erschreckt!« flüsterte Alec gekränkt. »Was sind das für Dinger?«
Seregil stützte die Ellbogen auf die Vitrine und tippte mit dem Zeigefinger gegen das Glas. »Die Hände Tikárie Megareshs, eines großen Nekromanten.«
»Sie bewegten sich.« Alec schauderte, als er über Seregils Schulter blickte. »Es ist, als wären sie noch lebendig.«
»Auf eine gewisse Weise sind sie das auch noch«, erwiderte Seregil. »Dieser Nekromant endete als Dyrmagnos. Hast du diesen Begriff schon gehört?«
»Nein, was bedeutet er?«
»Das ist das letztendliche Schicksal eines Nekromanten. Alle Formen der Magie fordern einen gewissen Tribut von denen, die sich ihrer bediene. Die Schwarze Kunst ist jedoch mit Abstand die schlimmste. Nach und nach zerstört sie den Körper, sie entzieht ihm das Leben, während sie noch den Geist stärkt. Mit der Zeit ist nichts weiter mehr da als ein wandelnder Leichnam, in dem eine schreckliche Intelligenz brennt – ein Dyrmagnos. Dieser Knabe war mindestens sechshundert Jahre alt, als Nysander ihm diese Hände abtrennte. Er meint, sie hätten sich seither nicht wesentlich verändert. Das läßt darauf schließen, wie der Rest von Tikárie Megaresh ausgesehen haben muß.«
Die linke Hand bewegte sich und kratzte mit den Nägeln leicht gegen den Boden der Vitrine. Alec schauderte erneut. »Wenn die Hände so aussahen, dann möchte ich sein Gesicht nicht gesehen haben.«
»Diese Hände entflohen einst«, fuhr Seregil fort und starrte auf
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