Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
nein, selbst über die Entfernung hinweg erkannte er die Gestalt eines Mannes. Die Kapuze des dunklen Umhangs war heruntergezogen und enthüllte ein blasses, ovales Gesicht. Der Mann rief ihn.
Nein, er sang!
Er konnte die Worte nicht verstehen, aber die Melodie war so wundervoll, sie klang nach Versprechen, daß ihm Tränen in die Augen stiegen. Wie weit war er weg? Wie lange würde er brauchen, zu ihm zu gelangen? Es war unmöglich, in diesem Ödland die Entfernung zu schätzen, aber es spielte keine Rolle. Er würde zu ihm laufen, denn plötzlich fühlte er sich so wundervoll leicht, als er über totes Gras und Steine sprang. Er rannte – nein, er flog! Das Gefühl der Erleichterung, der herrlichen Bewegung, war betäubend. Der Boden unter ihm verschwamm, und die Gestalt erwartete ihn mit offenen Armen, um ihn zu empfangen. Zu früh, und doch nicht früh genug, erreichte er sie, wurde aufgefangen und hoch gehalten. Der Mann beendete seinen Gesang und lächelte ihn gütig an. Welch ein Gesicht! Es war schön und ernst wie das eines Gottes. Die Haut hatte Farbe und Glanz reinen Goldes und legte sich zu zarten Fältchen in den Augen- und Mundwinkeln, wenn er lächelte. Eine Blende bedeckte ein Auge, aber selbst das störte nicht den Eindruck der Vollkommenheit. Das andere Auge, tiefblau wie ein Saphir oder ein Sommerhimmel, blickte ihn voller Liebe an.
»Nun bist du endlich gekommen, mein Verwundeter.«
Die Stimme verkörperte für ihn alle Liebe und Zärtlichkeit, die er in seinem kurzen Leben je zu finden gehofft hatte.
»Hilf mir, bring mich fort von diesem Ort!« flehte er und ergriff den Arm des Wesens, der sich kalt und hart anfühlte unter seiner Berührung.
»Gewiß«, antwortete der Gott, denn nichts anderes konnte er sein – Bilairy oder Illior war gekommen, ihn von diesem schrecklichen Ort fortzuholen.
Er zog ihn an sich und drückte ihn gegen seine Brust wie ein Kind, streichelte ihn mit seiner kalten, sanften Hand. »Wir werden durch die Tore reisen und über die See hinweg, du und ich. Gib mir die Gabe, die du gebracht hast, und wir brechen sogleich auf.«
»Gabe? Ich brachte keine Gabe!« stammelte er, und sein Herz begann plötzlich wild wie eine winzige Faust gegen seine Brust zu hämmern.
»Aber ja, das hast du.« Die Hand des Gottes streichelte seinen Kopf und die Schultern, sie öffnete sein Hemd und entblößte die Brust, in der er den Schmerz im Takt des wilden Klopfens verspürte. »Dort, siehst du?«
Dann stieg ihm wieder der kränkliche Geruch in die Nase, und brennender Schmerz durchfuhr ihn. Er blickte an sich hinab und sah die kleine Wunde, die über seinem Herzen klaffte; von dort, wie aus einer blutigen Augenhöhle, blickte ein Auge, so wundervoll blau wie das des Gottes – das genaue Gegenstück. Und plötzlich wehrte er sich vergebens gegen den eisernen Griff des Gottes, der es wieder an sich nehmen wollte …
Die Schwertwal stampfte südwärts durch die Nacht. Nach Sonnenaufgang kam Alec an Deck und sah vor sich hoch aufragende, graue Klippen und eine Gruppe von Inseln nahe am Strand voraus.
»Der Hafen von Rhíminee liegt innerhalb dieser Inseln«, rief Talrien über den Wind hinweg.
Rhíminee war der größte der westlichen Häfen und der am besten befestigte. Eine Reihe langer Granit-Molen war zwischen den drei kleineren Inseln errichtet worden, die vor der Hafenmündung lagen, dadurch gab es noch zwei Durchfahrten für Schiffe, die in friedlicher Absicht kamen. Als die Schwertwal durch eines dieser Tore segelte, sah Alec die breiten Dämme, auf denen dicht an dicht Katapulte und Balliste standen; eine ähnliche Anordnung von Molen verband zwei kleinere Inseln mit dem Hafen selbst und teilte ihn in eine innere und äußere Zone.
Die Matrosen holten alle Segel bis auf eines ein und fuhren in den äußeren Hafen, vorbei an den Schiffen, die dort bereits vor Anker lagen. Lange, schnelle Kriegsgaleeren mit scharlachfarbenen Segeln und zwei Ruderdecks lagen an den Dämmen, ihre bronzenen Rammen bedeckte nur eine Handbreit Wasser. Handelsfahrer, eckige Barken und kleine Karavellen mit hohem Bug lagen zu Dutzenden dort.
Das Seetor zum inneren Hafen war als weite Schleuse gebaut, die keinem Schiff, das sie passierte, Deckung gewährte. Balliste standen zu beiden Seiten der Schleuse, und die Seiten waren terrassenförmig angelegt, so daß Kompanien von Bogenschützen jedes feindliche Schiff, dem es gelang, die innere Verteidigungsvorrichtung zu durchbrechen, unter
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