Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
Gepäck und Schwert im Arm, seine Augen wanderten zwischen seinem Gefährten und dem Treiben der Stadt hin und her, das durch das Fenster des Wagens zu sehen war.
Nur noch ein Schatten seiner selbst, dachte Nysander, und er fürchtet sich zu Tode vor mir.
Der Junge sah verwegen aus in den Kleidern der Nordleute und mit dem zerzausten Haar. Nysander betrachtete den Verbandsfetzen, den der Junge um seine Linke trug, und wie er die Hand mit der Fläche nach oben auf seinem Knie ruhen ließ, als schmerze sie ihn. Entbehrung und Sorge um seinen Freund hatten Spuren in dem jungen Gesicht hinterlassen, daß er älter erschien, als er war. Er wirkte müde und unsicher. Aber unter diesem äußeren Anschein fühlte Nysander eine Entschlossenheit, die ihn und Seregil alles Üble, was ihnen widerfahren war, hatte überwinden lassen.
»Wieder ein Silberblatt, hm?« Nysander lächelte in der Hoffnung, den Jungen damit zu beruhigen. »Seregil meint, er habe den Namen zufällig gewählt.«
»Das mag sein.« Der Junge wagte einen Blick auf sein Gegenüber. »Er riet mir, niemals meinen wahren Namen zu verwenden.«
»Sicherlich hätte er nichts dagegen, wenn du ihn mir verrätst.«
Der Junge errötete. »Verzeiht, Sir. Ich bin Alec von Kerry.«
»Ein kurzer Name ist das. Man nennt mich Nysander í Azusthra Hypirius Mesandor Illandi, Hoher Thaumaturg des Dritten Orëska. Aber du darfst mich Nysander nennen, denn so sprechen Freunde einander hier an.«
»Habt Dank, Sir – ich meine Nysander«, stammelte Alec zurückhaltend. »Das ist eine große Ehre.«
Nysander winkte ab. »Nichts dergleichen. Seregil ist mir wie ein Sohn, und du hast ihn mir zurückgebracht. Ich stehe in deiner Schuld.«
Der Junge blickte wieder hoch und sah ihn diesmal direkt an. »Wird er sterben?«
»Er hat so lange überlebt, das gibt mir Hoffnung«, erwiderte Nysander und wünschte sich, mehr Zuversicht vermitteln zu können. »Du hast gut daran getan, ihn zu mir zu bringen. Wie seid ihr beide euch denn begegnet?«
»Er rettete mein Leben«, antwortete Alec. »Das liegt nun ungefähr einen Monat zurück, in den Erzkernbergen.«
»Ich verstehe«, Nysander betrachtete Seregils ruhiges, bleiches Gesicht und fragte sich, ob er wohl je seine Version der Geschichte erfahren würde.
Nach einer Weile des Schweigens fragte Alec: »Woher wußtet Ihr, daß wir kommen würden?«
»Vor etwa einer Woche hatte ich eine Vision, die mir Seregil in überaus großen Schwierigkeiten zeigte.« Nysander seufzte schwer. »Aber solche Visionen sind flüchtig. Als es mir endlich gelang, sie zurückzurufen, schien die Krise überwunden. Ich sah dann auch dich zum ersten Mal und wußte, daß Seregil in guten Händen war.«
Wieder röteten sich Alecs Wangen, und er zupfte verlegen am Ärmel seines Hemds.
»Während der letzten Tage hatte ich stets aufs neue kurze Einblicke über den Verlauf eurer Reise. Du bist ein findiger junger Mann. Aber nun erzähl mir, was geschehen ist, denn ich sehe, daß auch du verwundet bist.«
Nysander fuhr still fort, sich ein Bild von Alec zu machen, während der über ihre Flucht aus Asengais Gut berichtete und über die darauffolgenden Abenteuer. Etwas leichte Magie bestätigte ihm, daß Seregil seinen Gefährten gut gewählt hatte, aber warum er sich des Jungen angenommen hatte, blieb ihm nach wie vor ein Rätsel.
Alec beschrieb das Haus des Blinden in Wolde und gab zu, dort gelauscht zu haben. Er war sehr erleichtert, als er sah, daß Nysander dieses Eingeständnis mit einem Lächeln quittierte.
»Sie sprachen von einem Mann namens Boraneus«, fuhr Alec fort. »Aber dann nannte Seregil ihn Mardus. Er klang aufgeregt oder überrascht, als er den Namen aussprach.«
Nysander runzelte die Stirn. »Das kann ich verstehen. Hast du diesen Mann gesehen?«
»Im Haus des Bürgermeisters. Seregil gelang es, uns dort als Barden auftreten zu lassen, damit er ihn sehen konnte und den anderen, der mit ihm reiste.«
»Dieser Mardus, war er groß, mit dunklem Haar und einer Narbe unter einem Auge?«
»Von hier bis hier.« Alec fuhr mit dem Finger von der Nasenwurzel unter dem linken Auge bis zur Wange. »Er sieht gewiß gut aus, aber er wirkt kalt, wenn er nicht lächelt.«
»Exzellent! Und der andere?«
Alec überlegte einen Augenblick. »Er ist nicht sehr groß, jedoch eher dünn. Seine Haut ist bleich, als hätte er sein Leben nicht unter offenem Himmel verbracht, das Haar ist dünn und grau.« Er schüttelte den Kopf. »Er ist keine
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