Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Oberkleid über das Hemd und ging hinauf, ohne sich die Mühe zu machen, es zuzuknöpfen.
An Deck drehte er das Gesicht in den Wind und breitete die Arme aus. Die kalte, salzige Brise wehte ihm die Haare aus dem Nacken und blies die Jacke auf, so daß ihm das Hemd gegen die Rippen flatterte. Seregil legte den Kopf zurück und atmete tief ein, versuchte, sich vom Gefühl der Niedergeschlagenheit zu befreien. Dabei bemerkte er einen neuen Duft im Wind – den Geruch von Land.
Rasch trat er an die Steuerbordreling und erblickte den dunklen, ungleichmäßigen Umriß eines Gebirges, das wie ein just außer Reichweite befindliches Versprechen durch den morgendlichen Nebel schimmerte. Seine List mit den Segeln hatte sich bewährt. Sie waren ohne Zwischenfall in Sichtweite der nordwestlichen Küste Plenimars gelangt.
Rhal brüllte irgendwo achtern etwas, und Skywake bellte einen Befehl. Seregil sah sich auf dem Deck nach Micum um und fand ihn auf der vorderen Luke sitzend. Auf einem Knie balancierte er einen kleinen Spiegel und rasierte sich mit Hilfe eines Messers und eines Bechers Wasser das Kinn.
Als Seregil näher kam, schaute Micum auf, dann runzelte er die Stirn. »Wieder eine schlimme Nacht, was?«
»Die schlimmste bis jetzt.« Seregil fuhr sich mit den Fingern durch das windzerzauste Haar. »Es ist, als versuchte jemand, mir die wichtigste Sache der Welt in einer Sprache mitzuteilen, die ich einfach nicht verstehe.«
»Vielleicht kann Nysander etwas damit anfangen, wenn er herkommt.«
»Sofern er herkommt«, verbesserte ihn Seregil freudlos. Er hatte das Gefühl, sie befänden sich schon Jahre statt Wochen auf dem Schiff; Rhíminee, Nysander, Alec, die Toten, die sie zurückgelassen hatten, vielleicht war all das nur ein Teil desselben bösen Traums.
Micum deutete mit dem Messer auf einen einsam aufragenden Gipfel im Norden. »Rhal sagt, das dort ist der Berg Kythes. Er glaubt, wir können heute nacht an Land gehen. Es gibt da eine – Bei Bilairy, du blutest ja!«
Micum legte Messer und Becher beiseite, erhob sich und zog die losen Bänder von Seregils Hemd auf.
»Verflucht, es ist die Narbe. Sie ist wieder aufgebrochen«, flüsterte er, berührte mit dem Finger Seregils Brust und zeigte ihm das Blut.
Mit Hilfe von Micums Rasierspiegel nahm Seregil das dünne Rinnsal in Augenschein, das aus dem aufgebrochenen Rand der Narbe quoll. Er erkannte sogar die blassen Kringel, die von der Scheibe zurückgeblieben waren, und den kleinen, rechteckigen Abdruck des Loches in der Mitte. Zudem erhaschte er einen Blick seines Gesichtes, das im Licht der frühen Morgensonne ungesund gelblich und eingefallen wirkte. Rasch zog er die Jacke zu und schloß die obersten Knöpfe.
»Was bedeutet das?« fragte Micum.
»Weißt du noch, was heute für ein Tag ist?« entgegnete Seregil grimmig.
Micums Mund klappte auf. »Bei der Flamme, nach all der Zeit auf dem Schiff habe ich das völlig aus den Augen verloren.«
»Der fünfzehnte Lithion«, bestätigte Seregil und nickte. »Wenn Leitus’ und Nysanders Berechnungen stimmen, sollte Rendels Speer heute nacht am Himmel auftauchen.«
Seregil erblickte eine Mischung aus Furcht und Sorge in Micums Augen, als dieser einen letzten Blick auf das Blut an seinen Fingern warf, ehe er sie am Mantel abwischte.
»Du weißt doch, daß ich hauptsächlich mitgekommen bin, um auf dich aufzupassen, oder?« sagte Micum leise.
»Ja.«
»Tja, ich wollte dir nur sagen, daß ich allmählich beginne, die ganze Geschichte zu glauben. Was auch immer dich da gebrandmarkt hat, es wirkt nun auf uns ein. Ich hoffe nur, Nysander hatte recht damit, daß Illior der Unsterbliche ist, der uns leitet.«
Seregil legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Vielleicht gelingt es mir nach all den Jahren doch noch, aus dir einen Illiorer zu machen.«
»Nicht wenn das bedeutet, daß man nach dem Aufwachen so aussieht wie du heute morgen«, gab Micum zurück.
»Hast du immer noch keine Träume?« fragte Seregil, den der Umstand verwirrte, daß Micum der einzige ihrer Vierergruppe war, der noch keine wie auch immer geartete Vorahnung erfahren hatte.
Micum zuckte mit den Schultern. »Keinen einzigen. Ich hab’ dir ja immer gesagt, ich kämpfe am besten, wenn ich wach bin.«
Immer höher ragte der Berg vor ihnen auf, während sie im Lauf des Tages der Küste in nördlicher Richtung folgten. Aus der Ferne schien er unmittelbar aus der See aufzusteigen; sein Gipfel verlor sich in einem
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