Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
ihm geraubt werden, desto wertvoller ist das Opfer.«
Irtuk Beshar klopfte Alec und Thero auf die Schulter. »Ein junger Magier der Orëska und ein junger Halb-Faie – die Jugend unserer größten Feinde! Was könnte unseren Gott mehr erfreuen als das?«
Sprachlos, schweigend, betrachtete Alec die Runde eine Weile und versuchte, all das zu verdauen.
Nein, dachte er wie betäubt. Nein, ich werde kein Teil davon sein.
»Danke«, sagte er schließlich. »Ich glaube, allmählich beginne ich zu begreifen.«
Im Augenblick befanden sich keine Wachen im Raum. Weder Magie noch Ketten fesselten ihn. Ohne Vorwarnung hechtete Alec jäh über den Tisch und ergriff ein Messer, das neben der Geflügelplatte lag. Hastig umklammerte er es mit beiden Händen, richtete es auf die eigene Brust und betete um einen raschen Tod.
Doch zu seinem Entsetzen und Erstaunen wirbelte er statt dessen herum und jagte die Klinge in die Brust des Dieners. Der Junge stieß einen einzigen, gellenden Schrei aus und brach tot zusammen.
»Also wirklich, Alec, wo sind heute abend deine Manieren geblieben?« rief Mardus bedauernd aus. »Der Junge ist schon in meinem Besitz, seit er ein Kind war.«
Angesichts seiner Tat von Grauen gepackt, starrte Alec auf den Leichnam.
»Hast du tatsächlich gedacht, wir wären so einfallslos, daß wir einen solch edlen Zug deinerseits nicht erahnen würden?« schalt ihn Irtuk. »Du vergißt, wie innig ich dich kenne, Alec. Unter den ersten Zaubern, mit denen ich dich belegt habe, war einer, der dich vor derlei lächerlichen Heldentaten bewahrt. Sooft du versuchst, dich selbst zu verletzen, wirst du nur jemand anderen verletzen – wie diesen armen Unschuldigen.«
»O Illior!« stöhnte Alec und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Vielleicht liegt die Schuld auch teilweise bei mir«, seufzte Mardus. »Meine Erklärung könnte dem Jungen den Eindruck vermittelt haben, daß Thero und er für die Verwirklichung unserer Pläne unerläßlich wären.«
Mardus’ Hände schlossen sich um die des Jungen und drückten sie schmerzhaft, als er sie beiseite zog, um Alec voller boshafter Freude in die Augen zu blicken.
»Du mußt wissen, für den Gott macht es nicht den geringsten Unterschied, ob ihr beide ihm dargebracht werdet oder nicht. Es bereitet mir lediglich unsägliches Vergnügen, daß ihr die letzten Opfer sein werdet, und für Vargûl Ashnazai gilt gewiß dasselbe. Stell dir nur vor, mein lieber Alec – du wirst all die anderen sterben sehen, unfähig, sie zu retten. Und dann, nachdem deine Brust gespalten und dein Herz herausgerissen sind, wird dein letzter Gedanke der sein, daß nach all dem Ärger, den du uns bereitet, nach all den zusätzlichen Mühen, die du uns gekostet hast, ausgerechnet dein Tod dem Helm zu neuem Leben verhilft! Ich bedauere bloß, daß deine Freunde nicht da sein werden, um deinen Lohn zu teilen. Und jetzt versuch noch ein wenig zu essen. Du wirst schon wieder ziemlich blaß.«
42
Landfall
Seregil erwachte schweißgebadet und befand sich immer noch im Würgegriff des Alptraums. Er preßte die Augen zu und versuchte, die Bilder des Traumes festzuhalten, doch wie gewöhnlich blieb lediglich die verschwommene Erinnerung an eine große, über ihm thronende Gestalt und an das entsetzliche Gefühl zu ertrinken.
Micum war bereits hinaufgegangen. Halb dösend, verharrte Seregil noch eine Weile im Bett, während das erste schwache Licht der Morgendämmerung durch das einzige Fenster der Kabine fiel. War Alec wach und sah dasselbe Licht? fragte er sich wie an jedem Morgen der Reise. Lebte Alec überhaupt noch? Würde er noch leben, wenn die Sonne unterging?
Er rieb sich die Augenlider und fühlte, wie Feuchtigkeit durch die Wimpern sickerte. Am frühen Morgen war es am schlimmsten. Untertags konnte er sich irgendwie beschäftigen und seine Furcht begraben, indem er versuchte, etwas einigermaßen Nützliches zu tun. Nachts schloß er einfach die Augen und flüchtete sich in Träume und Alpträume.
Aber hier, in der Halbwelt der Morgendämmerung, hatte er keine Mittel zur Verteidigung, keine Ablenkung. Die Sehnsucht nach Alecs Gesellschaft, die Gewissensbisse und die Reue darüber, den Jungen in die Sache hineingezogen zu haben, das Bedauern, ihm nie gesagt zu haben, wieviel er ihm wirklich bedeutete – all das schwärte gleich einer Wunde, die nicht verheilen wollte.
Und alles, was er tun konnte, war, bis zum Ende weiterzumachen. Er rollte sich von der Pritsche, zog ein
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