Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
befürchten, es könnte sich um eine Sinnestäuschung handeln. Er unterdrückte das Verlangen, seinen alten Freund zu umarmen, hielt statt dessen einen Sicherheitsabstand ein und fragte: »Wie hast du uns gefunden?«
Nysander verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse. »Na, mit Hilfe des Blutzauberbehelfs, den du bei Magyana gelassen hast. Es bedurfte einiger Vorkehrungen und Magie, aber hier bin ich.«
Seregil steckte das Schwert in die Scheide und fiel dem alten Mann freudig um den Hals. »Ich wußte, du würdest es schaffen, aber beim strahlenden Licht, du siehst furchtbar aus!«
»Genau wie du, mein lieber Junge«, kicherte Nysander.
Micum zog das Boot an Land und rannte über den Kieselstrand, um sich zu ihnen zu gesellen.
»Soll das heißen, du hast hier auf uns gewartet?« rief er aus und betrachtete Nysander voller Verwunderung von oben bis unten. »Woher wußtest du? Und wieso hast du uns keine magische Botschaft geschickt?«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte der greise Zauberer, sank auf ein Stück Treibholz und knipste mit einer beiläufigen Handbewegung das Trugfeuer aus. »Ich muß gestehen, ich bin genauso erleichtert, euch zu sehen. Ich habe schon befürchtet, ich könnte euch doch noch verpaßt haben.«
»Weißt du irgend etwas über Alec?« fragte Seregil hoffnungsvoll und setzte sich neben ihn.
»Nein, aber du darfst nicht verzweifeln«, erwiderte Nysander und tätschelte ihm ermutigend die Schulter. »Wäre er tot, wüßte ich es. Die Kraft der Prophezeiung verbindet uns mit jedem verstreichenden Tag enger.«
Micum schob mit dem Fuß ein paar Treibholztrümmer zu einem Haufen zusammen und kramte einen Feuerstein aus der Gürteltasche. »Nun, ich hatte bislang keine großartigen Visionen oder Träume, aber je mehr ich von der ganzen Sache mitbekomme, desto mehr glaube ich daran. Bei der Flamme, Nysander, sieh dich nur an. Wie hast du es in dem Zustand überhaupt geschafft, hierherzugelangen?«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete Nysander bedrückt. »Niemand kehrt von einer Reise wieder zurück, auf die ihn der Dyrmagnos geschickt hat, ohne davon gezeichnet zu werden. Aber das Ganze hatte auch etwas Gutes. Während mein Körper heilte, trieb mein Geist schwerelos zwischen Träumen und Visionen. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie wir den Tempel finden. Ein weißer Stein, der von mehreren schwarzen umgeben ist, kennzeichnet ihn. Und er befindet sich in der Nähe des Meeres.«
Enttäuschung breitete sich gleich einem schlechten Essen in Seregils Magen aus. »Das ist alles? Soll das heißen, wir müssen in den hunderten Quadratmeilen rings um den Berg einen einzigen Felsen finden?«
»Das ist wahrhaftig ein bißchen dürftig«, pflichtete Micum seinem Freund gleichermaßen zweifelnd bei.
Dennoch wirkte Nysander rundum zufrieden. »Wir werden ihn finden«, versicherte er den beiden. »Das ist zwar noch keine Gewähr dafür, daß unsere Mission erfolgreich endet, aber wir werden ihn finden.«
»Inzwischen habe ich auch Träume«, erklärte Seregil dem Magier.
»Du hast mehr als bloß Träume«, schnaubte Micum. »Zeig ihm deine Brust.«
Seregil löste den Verband und offenbarte Nysander den verkrusteten, gelben Schorf, der sich rings um die Narbe gebildet hatte. »Es muß eine Art Zeichen sein. Leitus behauptet, heute nacht würde der Komet erstmals zu sehen sein.«
»Zweifellos«, pflichtete Nysander ihm bei. »Ob es ein gutes oder schlechtes Omen ist, bleibt abzuwarten. Wie sieht dein Traum aus?«
Seregil hob einen messerförmigen Stein auf und drehte ihn zwischen den Händen. »Ich kann mich nie an viel erinnern, nur an das Bild einer Gestalt mit einem unförmigen Schädel, die durch Wasser auf mich herabstarrt, während ich ertrinke. Kannst du nicht auf irgendeine Weise mehr aus mir herausholen?«
Nysander schüttelte den Kopf. »Ich muß sowohl mit meiner Kraft als auch mit meiner Magie streng haushalten. Das Bißchen, das ich besitze, war schwer zu erlangen, und wir brauchen es für die vor uns liegende Aufgabe. Sogar das Feuer, das ich als Signal für euch verwendet habe, entstammt einem Zauber, den Magyana für mich vorbereitet hat. Was den Traum angeht, er muß wohl eine Art Hinweis auf unsere Mission sein.«
Micum fuhr sich mit den Fingern durch die dichte, rote Mähne und seufzte. »Könntest du dich ein wenig genauer ausdrücken?«
Nysander nickte. »Vor dem Überfall auf das Orëska-Haus hatte ich gehofft, ich müßte euch von alldem nie erzählen. Danach war ich
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