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Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond

Titel: Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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die Augen aufschlug, lag er mit weit ausgestreckten Armen am Boden.
    Elesarit kauerte neben ihm, die Lider halb geschlossen, die Lippen zu einer seltsamen Grimasse verzogen.
    »Meine Mutter?«, fragte Alec mit trockenem Mund, noch zu geschwächt, sich aufzusetzen. Sein Hinterkopf schmerzte. Eigentlich schmerzte sein ganzer Körper.
    »Ja, kleiner Bruder, sie und dein Tírfaie-Vater«, antwortete Elesarit sanft und berührte mit den Fingerspitzen einer Hand Alecs Schläfe.
    »Mein Vater – hatte er keine anderen Namen?«
    »Keine, die er gekannt hätte.«
    Wieder schloss sich der Rauch um ihn und hüllte ihn in eine neuerliche Woge der Benommenheit. Die Decke über ihm löste sich in einem Wirrwarr verschwimmender Farben auf.
    Aufhören, bettelte er, doch seine Kehle war taub und kein Laut kam über seine Lippen.
    »Du trägst schwer an den Erinnerungen deiner Leute«, sagte der Rhui’auros irgendwo in dem rauchgeschwängerten Raum. »Ich werde sie von dir nehmen, doch nicht, ohne dir etwas zurückzugeben.«
    Plötzlich stand Alec auf einem zerklüfteten Gebirgshang unter einem riesigen Halbmond. Kahle Gipfel erstreckten sich vor ihm so weit das Auge reichte. Weit unter ihm beschritt eine Prozession Hunderter Gestalten, vielleicht gar Tausender, mit Fackeln einen gewundenen Pfad. Die Reihe kleiner, tanzender Lichter zog sich gleich einer Bernsteinkette auf zerknittertem Samt durch die Nacht.
    »Frage, was du fragen willst«, brummte eine leise, unmenschliche Stimme hinter ihm, knirschend wie Gesteinsbrocken in einer Gerölllawine.
    Alec wirbelte um die eigene Achse, griff nach seinem Schwert, das nicht da war. Wenige Meter hinter ihm erhob sich eine Klippe in den finsteren Himmel, völlig ebenmäßig, abgesehen von einem Loch am unteren Rand, kaum größer als die Öffnung einer Hundehütte.
    »Frage, was du fragen willst«, wiederholte die Stimme, und die Vibration ihres Klangs wirbelte klappernd die Kieselsteine zu Alecs Füßen auf.
    Er sank auf Hände und Knie und starrte in das Loch, doch er sah nur Finsternis.
    »Wer bist du?«, wollte er fragen, doch stattdessen formten seine Lippen die Worte: »Wer bin ich?«
    »Du bist der Wanderer, der sein Heim in seinem Herzen trägt«, erwiderte der unsichtbare Sprecher, anscheinend zufrieden mit dieser Frage. »Du bist der Vogel, der sein Nest auf den Wogen errichtet. Keine Frau wird Mutter deiner Kinder sein.«
    Eiseskälte durchströmte ihn. »Ein Fluch?«
    »Ein Segen.«
    Plötzlich fühlte Alec etwas Schweres, Warmes an seinem Rücken. Jemand legte eine Fellrobe über ihn, die zuvor an einem Feuer gewärmt worden war. Sie war so schwer, dass er nicht imstande war, den Kopf zu heben, um nachzusehen, wer ihn zugedeckt hatte, aber er erhaschte einen Blick auf die Hände eines Mannes, und er erkannte sie – kräftige, langfingrige Aurënfaie-Hände. Seregils Hände.
    »Kind der Erde und des Lichts«, sprach die Stimme. »Bruder der Schatten, Wächter in der Dunkelheit, Zaubererfreund.«
    »Zu welchem Clan gehöre ich?«, keuchte Alec unter der Last der warmen Robe.
    »Akavi’shel, ein wenig Ya’shel und gar kein Clan. Eule und Drache. Immer und niemals. Was hältst du in Händen?«
    Alec blickte auf seine Hände, die sich gegen den felsigen Boden stemmten, während er gegen das Gewicht der Robe kämpfte. In den Fingern seiner linken Hand erkannte er seinen Akhendi-Talisman mit dem geschwärzten Amulett. Zusammengerollt neben seiner Rechten lag blutbefleckter Stoff – ein Sen’gai, wenn er auch keine Farbe erkennen konnte.
    Das Gewicht der Robe war zu viel für ihn. Er brach zusammen und war unter der erstickenden Last gefangen.
    »Welchen Namen hat meine Mutter mir gegeben?«, stöhnte er, als der Mond verlosch.
    Er erhielt keine Antwort.
    Erschöpft, gefangen, von Schmerzen in jedem Muskel geplagt, barg Alec seinen Kopf in den Armen und weinte um eine Frau, die seit neunzehn Jahren tot war, und um den stillen, nachdenklichen Mann, der einst hilflos hatte mit ansehen müssen, wie seine einzige Liebe starb.
     
    Seregil atmete tief ein und wartete in der Hoffnung, der Rauch der brennenden Kräuter wäre stark genug, seine Furcht zu lindern. In diesem Raum gab es keine Meditationssymbole – keine Schöpferkönigin, kein Wolkenauge, keinen Mondbogen. Vielleicht standen die Rhui’auros dem Lichtträger zu nahe, um derartige Dinge zu benötigen.
    »Aura Elustri, leuchte mir«, murmelte er. Dann faltete er die Hände locker im Schoß, schloss die Augen und bemühte

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