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Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond

Titel: Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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abgetragenen Stiefel waren nass, als wäre er durch taufeuchtes Gras gelaufen. Das lockige weiße Haar, das seine Stirnglatze umrahmte, bewegte sich sacht im Wind, und Seregil konnte einen Tintenfleck in dem kurz gestutzten Bart erkennen. Seit Nysanders Tod hatte Seregil nicht ein einziges Mal von seinem alten Freund geträumt, und wann immer er sich wach an ihn erinnerte, erhob sich entgegen all seiner Bemühungen Nysanders totes, blutüberströmtes Antlitz vor seinem geistigen Auge und zerstörte all die schönen Erinnerungen.
    Rasch wandte er den Blick ab und stählte sich für eine neuerliche Veränderung der Vision, doch eine Hand legte sich sacht um sein Kinn und drehte sein Gesicht wieder in Richtung des Zauberers.
    »Öffne deine Augen, Seregil.«
    Er tat, wie ihm geheißen, und weinte beinahe vor Erleichterung, als er Nysander unverändert vor sich sah.
    »Manchmal ist dein Geist furchtbar stur, mein lieber Junge«, sagte er und tätschelte Seregils Wange. »Du kannst in einer Neumondnacht einer schwarzen Katze folgen, und doch ist dir noch so viel aus der Tiefe deines eigenen Herzens unbekannt. Du musst besser aufpassen.«
    Nysander zog die Hand weg, und Seregil sah, dass er nun eine der mysteriösen Glaskugeln hielt. Mit einer achtlosen Bewegung aus dem Handgelenk warf er sie in die Luft. Einen Augenblick glitzerte sie im Sonnenschein, ehe sie auf den Felsen zu ihren Füßen zersplitterte. Für einen furchtbaren Moment war Seregil wieder auf den windumtosten plenimaranischen Klippen, Blut – Nysanders Blut – troff von seiner gebrochenen Klinge herab. Gleich darauf war das Bild wieder verschwunden.
    »War das nicht ein lieblicher Klang?«, fragte der Zauberer, und betrachtete die winzigen Scherben.
    Seregil blinzelte, um seine Tränen zurückzuhalten, und versuchte, dieser Vision einen Sinn abzuringen. »Der Rhui’auros hat gesagt, ich müsste auf sie aufpassen.«
    Aber Nysander war fort, und auf seinem Platz saß erneut Lhial und schüttelte den Kopf. »Ich sagte, sie gehören dir, Sohn des Korit. Aber das weißt du. Du hast es schon gewusst, ehe du zu mir gekommen bist.«
    »Nein, das habe ich nicht!«, schrie Seregil, obwohl er nun nicht mehr so überzeugt war. »Was erwartet Ihr von mir? Was soll ich tun?«
    Der Wind wurde kälter. Er zog die Knie an und schlang die Arme um sie herum in dem Versuch, sich ein wenig aufzuwärmen. Dann spürte er eine Bewegung neben sich und sah, dass anstelle Lhials nun ein Drache von der Größe eines Bullen neben ihm saß, der ihn aus goldenen, warmen Augen ansah.
    »Du bist ein Kind Auras, kleiner Bruder, ein Kind Illiors. Der nächste Schritt des Tanzes steht bevor. Trage nur mit dir, was du brauchst«, erzählte ihm der Drache mit Lhials Stimme. Dann breitete er die ledernen Schwingen aus und flog mit einem Geräusch wie sommerliches Donnergrollen direkt vor die Sonne.
    Seregil ertrank in Finsternis. Wie eine Faust schloss sich die stickige, ätzende Atmosphäre im Inneren der Dhima um ihn. Um Atem ringend suchte er den Ausgang und krabbelte hinaus, nur um gleich darauf keuchend auf dem warmen Steinboden vor der Kammer zusammenzubrechen.
    Etwas lag unter seiner linken Hand. Er brauchte das Licht, das aus der Haupthöhle hereindrang, nicht, um zu wissen, worum es sich handelte; er erkannte die Wölbung des kühlen, ein wenig rauen Glases unter seinen Fingern. Schwankend stemmte er sich auf die Beine und wog die Glaskugel für einen Moment auf seiner Handfläche; sie war schwer, zu schwer für ein Objekt von der Größe eines Rabeneis. Sie war kostbar; sie war abscheulich; er allein konnte entscheiden, was mit ihr geschehen sollte.
    Trage nur mit dir, was du brauchst.
    Von plötzlichem Ungestüm ergriffen, schleuderte er sie gegen die Wand. Dieses Mal gab es keine Visionen, nur das scharfe, befriedigende Klirren berstenden Glases.
     
    Die Sonne stand noch immer knapp über dem östlichen Horizont, als er das Nha’mahat verließ. Sein Körper schmerzte, und er war so müde, als wäre er gerade erst zu Fuß quer durch das Gebirge gereist.
    Im Gästehaus fand er Alec noch immer im Bett vor, ein Kissen über den Kopf geschoben. Er erwachte, als Seregil die Tür schloss, und tauchte mit verschlafenem Gesicht und wirrem Haar gähnend unter dem Kissen auf.
    »Da bist du ja«, begrüßte er ihn, während er sich auf einen Ellbogen stützte. »Wieder ein einsamer Spaziergang am frühen Morgen? Wo warst du dieses Mal?«
    Die Worte wollten nicht über seine Zunge. Seregil

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