Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond
hinunterschlang. Dann aber blieb ihm der Bissen beinahe im Halse stecken, denn er hatte eine Platte mit Haferkeksen entdeckt, von denen Honig und Butter im Überfluss troffen. Bei Nysanders extravaganten morgendlichen Mahlzeiten wurden solche Kekse ebenfalls immer serviert.
»Du vermisst ihn sehr, nicht wahr, kleiner Bruder?«, fragte Elesarit, der sein eigenes Essen nicht einmal angerührt hatte. Er legte seine Maske ab, und zum Vorschein kam ein runzliges Gesicht, das gleichzeitig heiter und mitfühlend blickte.
»Ja, das tue ich«, erwiderte Seregil leise.
»Manchmal ist Trauer ein besserer Ratgeber als Freude.«
Seregil nickte und nahm einen Bissen von den Haferkeksen. »Habt Ihr Nyal heute Morgen zu mir geschickt.«
»Er ist gekommen, nicht wahr?«
»Doch. Wäre er nicht gewesen, hätten wir vielleicht nie herausgefunden, was Klia fehlt oder wie wir ihr helfen können.«
Die Brauen des Rhui’auros ruckten auf dramatische Weise nach oben. Unter anderen Umständen hätte es beinahe komisch ausgesehen. »Jemand hat deiner Prinzessin ein Leid getan?«
»Das wusstet Ihr nicht? Aber warum habt Ihr Nyal dann zu mir geschickt?«
Der alte Mann beäugte ihn listig, sagte jedoch nichts.
Seregil kämpfte gegen die eigene Ungeduld. Wie vom Orakel von Illior hieß es auch von den Rhui’auros sie seien Opfer eines Wahnsinns, der aus der göttlichen Berührung entstand. Dieser Bursche bildete da offenbar keine Ausnahme.
»Warum habt Ihr ihn zu mir geschickt?«, fragte er noch einmal.
»Ich habe ihn nicht zu dir geschickt.«
»Aber Ihr habt doch gerade gesagt …« Seregil brach ab. Er war zu müde, sich auf subtile Spiele und Rätsel einzulassen. »Warum bin ich dann hier?«
»Um deiner Prinzessin willen?«, schlug der alte Mann vor, der sich den Anschein völliger Verwunderung gab.
»Na schön. Da Ihr mich erwartet habt, müsst Ihr mir wohl irgendetwas zu sagen haben.«
Ein Drache vom Ausmaß einer großen Katze krabbelte unter dem Tisch hervor und sprang dem Rhui’auros auf den Schoß. Geistesabwesend streichelte er den glatten Rücken der Kreatur für einen Augenblick, ehe er Seregil mit entrücktem Blick betrachtete.
Von dem sonderbaren Blick festgenagelt, fühlte Seregil, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Auch der Drache beobachtete ihn, und in seinen gelben Augen lag mehr Intelligenz als in denen des Mannes, auf dessen Schoß er hockte.
Plötzlich schoss Elesarits Faust auf Seregil zu, welcher instinktiv zurückwich.
»Du wirst das hier brauchen, kleiner Bruder.«
Zögernd streckte Seregil die Hand mit der nach oben gewandten Handfläche aus, um entgegenzunehmen, was auch immer der Mann ihm geben wollte. Etwas Glattes, Kühles fiel in seine Hand. Für einen Augenblick dachte er, es wäre eine der geheimnisvollen Kugeln aus seinen Träumen. Stattdessen stellte er gleich darauf fest, dass er eine schmale Phiole aus dunkelblauem, irisierendem Glas mit einem silbernen Verschlussstopfen hielt, die einen überaus kostbaren Eindruck machte.
»Das ist ein plenimaranisches Produkt«, stellte er fest, als er die Arbeit erkannte. Dennoch flüsterte eine leise Stimme in ihm: viel zu einfach.
»Wirklich?« Elesarit beugte sich vor, um die Phiole genauer zu betrachten. »Der, der zwei Herzen besitzt, ist doppelt stark, Ya’shel Khi.«
Seregil, der nur mit halbem Ohr dem sinnlosen Gebrabbel des alten Mannes lauschte, öffnete die Phiole und schnüffelte vorsichtig an dem Inhalt, nicht ohne sich zu wünschen, er hätte Nyal gefragt, wie das Gift der Apaki’nhag roch. Doch das säuerliche Aroma war ihm in enttäuschender Weise vertraut. Er ließ sich einen Tropfen auf den Finger rinnen und verrieb ihn mit dem Daumen. »Das ist nur Lissik.«
»Hast du denn mit etwas anderem gerechnet?«
Kommentarlos verkorkte Seregil die Phiole. Er vergeudete hier nur seine Zeit.
»Eine Gabe, kleiner Bruder«, tadelte Elesarit wohlwollend. »Nimm, was der Lichtträger dir schenkt, und sei dankbar. Was wir erwarten, ist nicht immer das, was wir brauchen.«
Seregil widerstand dem dringenden Bedürfnis, die Phiole quer durch den Raum zu schleudern. »Solange Euer Drache mich nicht beißt, weiß ich nicht, wofür ich dankbar sein soll, Ehrwürdiger.«
Elesarit betrachtete ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Zuneigung. »Manchmal ist dein Geist furchtbar stur, mein lieber Junge.«
Kalter Schweiß brach zwischen Seregils Schulterblättern aus; genau diese Worte hatte Nysander in seiner letzten Vision an ihn
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